Meine Brotgeber, die gütigen Stadtmütter und -väter von Zürich, schicken mir und – wie ich annehme – auch allen anderen Mitarbeitern der Jahrgänge 1939 bis 1944 «Einladungen für Altersvorbereitungskurse», jenen des Jahrgangs 1939 explizit zum letzten Mal. Diese rührende Fürsorge erinnert mich an den Mahlstrom des verrinnenden Lebens – die Nachspielzeit naht in immer schnellerem Tempo. Da könnte sich mit dem unerbittlichen Auszählen Resignation breit machen, umso mehr, als ja der Zerfall schon vor längerer Zeit angefangen hat. Da musste ich in der «Weltwoche» vom 4. Juli 2002 von einer Beatrice Schlag, die es offenbar weiss, lesen: Bei Männern «nach den besten Jahren» – also jenen mit 50 und mehr – sei der Geist zwar noch willig, doch das Fleisch werde schwach, die Power im Beruf und im Bett nehme ab, die Melancholie zu. Frau Schlag doppelte noch nach: «Die Prostata ist grösser als das Ego, die Haare wachsen aus den Ohren und fehlen weiter oben, Hüftspeck, Gedächtnislücken und der Zwang, viermal pro Nacht aufs Klo zu müssen, charakterisieren den alternden Mann über 50.» Und ich werde nun schon 60, bin also sicherlich weit über dem Ablaufdatum. Altersvorbereitungskurse und städtische Konzepte sollen die Endzeitstimmung erträglich machen. Manche erblicke ich um mich herum, die haben schon viel früher mit dem Resignieren begonnen: «Das mache ich nicht mehr» galt für Skifahren, Skaten und Rudern, Treppensteigen statt Liftbenutzung, Viertausendergrate statt Mykonos-Strand, Bücher mit kompliziertem Inhalt und verschlungenen Sätzen, Klavierspiel, Mountainbiking, Schönbergs Musik und Josquin des Prez. Manche machten das schon nicht mehr, als sie dreissig wurden, und dann noch immer weniger, und viele von diesen fragen mich mit ungläubigen Augen: «Ja, machst du das immer noch?» Wann immer nun diese Resignation auch einsetzt – zum Glück ist Hilfe nahe. Dabei meine ich nicht nur Altersvorbereitungskurse sowie Angebote für Drechselkurse, Spätenglisch und Scherenschnittfertigkeit, sondern ich meine Anti-Aging-Medizin. Dank dieser Wunderwaffe können mittels vorgängiger moderner Stuhldiagnostik und Hormonmessung Defizite ausgemacht werden. Für solche gibt es dann Anti-Aging-Hormone: etwa DHEA, das Haut und geistige Flexibilität stärkt, bei falscher Dosierung aber Haarausfall und Krebs erzeugt, Testosteron für Lust, Muskelmasse, Knochen und auch fürs Wachstum von Prostatatumoren, Wachstumshormon für starke Muskeln und als Nebenwirkung grosse Nase und Krebs, Melatonin fürs Schlaf-Wach-Rhythmus-Immunsystem und als Zugabe Depression usw. usw. usw. Besonders erwähnt seien noch die Östrogene gegen Wallungen, Osteoporose und als Zugabe verschiedene Krebsarten und Thrombosen. Dass sie nicht vor Herzinfarkt schützen, wie lange behauptet wurde, wissen wir jetzt – in die Prospekte hat diese Erkenntnis indes noch nicht Einzug gefunden. Die Protagonisten sind reich geworden und haben weltweit ungezählte Anhänger und Opfer. Die Branche hat zweifelsfrei gewaltiges Wachstumspotenzial. Auch die Psychiater möchten hier nicht auf der Seite stehen und bieten den Verzagten Hilfe an: Männer über 50 und ihre Ärzte lernen von Psychiatrieprofessoren allerlei über Depression, Suizidalität, Andropause, sexuelle Störungen und die heutzutage gottlob vorhandenen Heilmittel. Erkenntnisse über Sexualität im Alter und Prostatitis werden bei Schiffsfahrten mit Nachtessen auf dem Zürichsee den verschreibenden Ärzten vermittelt. Es gibt zahlreiche weitere Rezepte: «Liebe und Sport halten jung», verkündet die «Schweizer Illustrierte». Titelheld der Story ist Maximilian Schell, der aber nur voller Unrast ist und allenfalls zur Entspannung Beeren sammelt. Andere bewegen sich lebenslang wie Ulrich Inderbinen, der noch mit 90 Jahren das Matterhorn bestieg und erst mit 95 seinen Bergführerberuf an den Nagel hängte. Und schliesslich gibt es jene, die radikale Wechsel vorziehen wie der begnadete Herzchirurg Markus Studer, der lieber Bratwurst als Kaviar hat und mit 56 das Chirurgenskalpell mit dem Steuer des Fernlasters vertauscht. Persönlich habe ich einfach dieses «Das mache ich nicht mehr» nie in mein Vokabular aufgenommen. Sollte mir nicht Georg W. Bush in seiner unheilschwangeren Motivationsverkettung von Vaterkomplex und Erdölgier noch einen Strich durch die Rechnung machen, so werde ich an meinem 60. Geburtstag die 450 Meter hohe senkrechte bis überhängende Kletterroute «Stairways to Heaven» im jordanischen Wadi Rum durchsteigen. So etwas Schweres habe ich noch kaum je gemacht. Falls ich im Himmel ankomme, werde ich bis auf weiteres keine Altersvorbereitungskurse brauchen.
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