Frau Holle lächelt nicht nur von Plakaten und wirbt für «Auf und Davos». Sie schüttelt auch termingerecht zum Saisonstart ihre Daunen. Drinnen, im klobigen Kongresszentrum, wo schon Grössen wie US-Präsident Bill Clinton oder Microsoft-Gründer Bill Gates anzutreffen gewesen sind, kuscheln sich die Dörfler aneinander. Freude herrscht: Das einheimische Gewerbe präsentiert sich an der «Davoser Mäss».
Die Notabeln aus Wirtschaft und Politik tauschen beim Prosecco Nettigkeiten aus. Stargast Ralph Krueger, der in Davos lebende Eishockey-Nationaltrainer, verkauft den Einheimischen sein Erfolgsrezept. Es gelte, ehrlich mit dem anderen zu kommunizieren, auf «Tratsch und Blabla» zu verzichten, Respekt voreinander zu haben und alles für das «Team» zu tun: «Wenn das Team Davos gewinnt, gewinnen wir alle.»
Von einem «Team Davos» kann allerdings keine Rede sein: Im Schweizer Nobelkurort herrscht ein Kampf jeder gegen jeden. Davos, das im Januar mit der Durchführung des 15. World Economic Forum (WEF) im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehen wird, präsentiert sich selber als wenig geeignetes Vorbild. Der Ort ist auf der Suche nach einer neuen Identität.
Der Kurort hat sich noch immer nicht von den Nachwirkungen der Rezession der Neunzigerjahre erholt, die gewichtige Wirtschaftspfeiler wie die Bergbahnen, die Kliniken sowie Teile der Hotellerie empfindlich getroffen hat. Erschwerend kommt hinzu, dass gerade jetzt, wo straffe Führung für einen Neuanfang gefragt wäre, ein Generationenwechsel bei den Entscheidungsträgern von Politik und Wirtschaft stattfindet. Das führt zu einem Machtvakuum, was die Suche nach Auswegen aus der Krise erschwert. Die Situation lässt sich mit der Binsenwarheit aus der Eröffnungsrede vom OK-Präsidenten der «Mäss», Hansjörg Künzli, zusammenfassen: «Veränderung ist die einzige Konstante.»
Wie blank die Nerven vielerorts liegen, zeigt sich an der Gehässigkeit im Umgang untereinander im noblen Bergort. So beschimpften Briefschreiber den neuen Direktor von Davos Tourismus (DT), Armin Egger, als «Sch…österreicher» und forderten: «Da gehört ein Schweizer hin.» Das war auch die Meinung örtlicher Bedenkenträger. Sie liessen die Lokalpresse polemisieren, unter den über 50 Kandidaten hätte sich ein geeigneter Einheimischer finden müssen. Mit diesem Argument wurde versucht, die Arbeitsbewilligung für den Ausländer zu hintertreiben.
Der Aargauer Ernst Wyrsch vom Hotel Belvédère, seines Zeichens Präsident des Hockey-Clubs Davos, musste sich vom jahrzehntelang als Tourismusdirektor fungierenden Bruno Gerber öffentlich als «guter Hotelier, aber schlechter HCD-Präsident» abqualifizieren lassen. «Der mit einem Generationenwechsel verbundene Strukturwandel verunsichert», sagt Wyrsch trocken. Der Chefarzt der Thurgauer Schaffhauser Höhenklinik, Beat Villiger, kommentiert: «Die Davoser haben unnötigerweise ein angeknackstes Selbstbewusstsein.» Er selbst muss sich damit nicht mehr auseinander setzen – er wird nach Bad Ragaz ausweichen.
Die Gründe für das gestörte Klima im Dorf sind mannigfaltig. Im Geschäftsbericht 1999/ 2000 listet Ex-Tourismusdirektor Gerber akkurat Problemfall um Problemfall auf und bilanziert: «Davos geht den steinigen Weg.»
Am stärksten in der Krise sind die Bergbahnen. Die Parsennbahnen stecken tief in den roten Zahlen. Die wegen abgeschriebener Altlasten angehäuften Verluste von gegen zehn Millionen Franken liessen den Eigenkapitalanteil unter die Zehn-Prozent-Grenze fallen. Auf der Schatzalp droht 2001 die Schliessung des Zubringers ins Parsenngebiet. Gesucht wird ein millionenschwerer Investor, der bereit ist, die renovationsbedürftigen Bahnen und das wunderschöne Hotel auf dem Davoser Hausberg in ein modernes Resort umzuwandeln. Ob alle anderen sechs Bahnen in der Region Klosters–Davos die nächsten zehn Jahre überleben werden, ist ungewiss.
Nicht dass die Parsennbahnen, einst ein Vorzeigeunternehmen, zum Sanierungsfall geworden sind, hat die Davoser gewaltig erschreckt, sondern dass nun gnadenlos unpopuläre Massnahmen wie die Kürzung der Zuschüsse von 800 000 auf nur noch 200 000 Franken an den Davoser Ortsbus in die Tat umgesetzt werden. Im Sommer wurden überdies die Pischabahnen stillgelegt. Über solche Ausgabensenkungen und Ertragssteigerungen, sprich Erhöhung der Abo-Preise, soll der magere Cashflow jährlich bestenfalls um zwei Millionen erhöht werden. Immerhin können die Davoser Bergbahnunternehmen nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden. Sie haben sich mit Ausnahme der Schatzalpbahnen mittels gegenseitiger Beteiligungen zusammengeschlossen.
Im Umbruch ist auch Davos Tourismus. Der einstige Kurverein sorgt mit seinen 170 Angestellten nicht nur für die Vermarktung der Davoser Gästebetten. Er führt auch ein Herzstück des Tourismus, die gemeindeeigene Kongressanlage, in welche die Gemeinde demnächst weitere Millionen investieren wird. Die Tourismusorganisation hat zudem für die Auslastung des dazugehörenden Hotels samt Restaurant zu sorgen, was immer wieder zu Animositäten führt. Weiter besitzt sie das Sportzentrum. Ob dieses rentiert, hängt auch vom Erfolg des HCD ab, an dessen Sanierung sich Davos Tourismus mit 1,5 Millionen beteiligt hat. Ebenfalls übernommen werden öffentliche Aufgaben wie die Schneeräumung. Die Tourismusorganisation besitzt Liegenschaften im Wert von 17,2 Millionen und verfügt über ein Budget von 30 Millionen Franken.
Diese Strukturen gelte es nun zu überdenken. Im Frühling wird der mit Unternehmern und Dorfpolitikern besetzte Verwaltungsrat verschlankt und entpolitisiert. Der Zürcher Vermögensberater und Hotelier Willy Weber fordert beispielsweise, das heute von Davos Tourismus gemanagte Kongressbusiness solle «in modernste Verkäuferhände» übergeführt werden. Der seit Jahren angestrebte Aufschwung bei den Kongresstouristen lässt nämlich auf sich warten. Das Malaise ist bekannt, kann doch in einer kürzlich durchgeführten Studie nachgelesen werden: «Das Kongressmanagement agiert zu defensiv. Die Anstrengungen sind zu stark auf die Bewahrung des Erreichten ausgerichtet.» Die Gemeinde erneuerte den Vertrag mit Davos Tourismus im Frühling trotzdem.
Davos muss nicht nur möglichst viele neue, sondern auch möglichst zahlungskräftige Gäste ansprechen. Trotz einem Anstieg der Logiernächtezahlen liegt der Bergkurort noch zehn Prozent unter dem Spitzenwert von 2,55 Millionen im Jahr 1992/1993. Mit 900 000 Hotelübernachtungen (1999/2000) rangiert Davos zwar immerhin auf Platz zwei der Schweizer Bergferienorte – hinter Zermatt mit 1,2 Millionen, aber vor St. Moritz mit 870 000. Doch mit dem Massengeschäft im Sommer lässt sich die nötige Wertschöpfung nicht erwirtschaften. Die Vier- und Fünfsternhotellerie ist momentan schon zufrieden, so Hoteliervereinspräsident Mario Gubser, wenn der Betrieb wegen der gegenüber der Wintersaison bis zu 50 Prozent tieferen Preise kostendeckend sei. «Wir müssen im Sommer wieder mehr Individualgäste anziehen», sagt Gubser.
Ein weiterer Brandherd sind die Kliniken. Ende der Vierzigerjahre war es der medizinische Fortschritt – die Tuberkulose-Impfung –, der danach viele Heilstätten überflüssig machte. Heute bedrohen mit der Kostenexplosion im Gesundheitswesen verbundene Sparübungen das finanzielle Überleben der berühmten Höhenkliniken. Die Logiernächte brachen in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre um ein Drittel oder 130 000 ein, was die Wertschöpfung dieses saisonabhängigen Standbeins um gegen 40 Millionen schrumpfen liess.
Angesichts dieser Entwicklung wird im Dorf jede Neuerung negativ vermerkt: Der bereits erwähnte Abgang des prominenten Sportmediziners Villiger nach Bad Ragaz (er leitet ab Januar das medizinische Zentrum der Thermalbäder und Grand-Hotels im Konkurrenzort) wurde als weiterer Beweis für die gravierende Erosion des Klinikplatzes Davos (siehe Kasten «Kränkelnde Kliniken» auf Seite 106) aufgenommen. Villiger sieht das genau umgekehrt: Ihm erschien der Zeitpunkt für einen Wechsel günstig, weil das wirtschaftliche Überleben der Höhenklinik nach jahrelangem Kampf gesichert scheint. Eine gute Botschaft. Nur kommt sie nicht an, weil sich in Davos die Politiker und Unternehmer mit Anschuldigungen überhäufen. «Momentan fehlen hier kraftvolle, überzeugende Persönlichkeiten», konstatiert der frühere Landammann Luzius Schmid.
Der langjährige Dorfkönig Andreas J. Gredig ist in Unehren abgetreten. Mangels Alternativen habe man ihm vor Jahrzehnten Mandat um Mandat übergeben, sagt er selbst. Er war Präsident von Davos Tourismus und der einst stolzen Parsennbahnen. Die haben er und seine Verwaltungsratskollegen beinahe ruiniert.
Interessanterweise bleibt er dennoch am Ball: Er gehört zu einer Gruppierung in Davos – inoffiziell «Think-Tank» genannt –, der echte Querdenker angehören. Auf Einladung diskutieren auch lokale Würdenträger wie Landammann Erwin Roffler mit. Einst haben sich die Freunde in der Sauna getroffen. Doch irgendwann wollte die Herrenrunde nicht mehr nur darüber reden, was man besser machen könnte, sondern auch etwas bewegen. Erste Projekte sind am Anlaufen.
Auch wenn der informelle Zirkel kein Machtzentrum sein will, löst allein seine Existenz Ängste aus und provoziert Gegenreaktionen. Denn ihm gehören mit dem Grossaktionär und Softwarespezialisten Pius App sowie dem SVP-Grossrat und Verwaltungsratspräsidenten Hans-Peter Pleisch zwei Vertreter der Parsennbahnen an, deren Sanierungsvorhaben mehr als nur polarisieren. Der Zwist um den geplanten neuen Zubringer der Parsennbahnen aufs Weissfluhjoch (siehe Kasten «Investitionsstau bei den Bahnen» auf Seite 107) kratzt am Lack vom Kleinen Landrat und von Landammann Erwin Roffler. Unüberhörbar werden dessen Führungseigenschaften in Frage gestellt.
Sowohl der Kleine Landrat wie Davos Tourismus, politisch und wirtschaftlich die Machtzentren, sind nicht voll im Saft: Bei Davos Tourismus muss sich die neue Mannschaft um Armin Egger erst durchsetzen. In den politischen Gremien fehlen zurzeit die unumstrittenen Macher. Das gilt auch für die Parsennbahnen, die mit Carlo Schertenleib einen der wenigen Hoffnungsträger in Davos an Bord genommen haben. Dem neuen Delegierten des Parsenn-Verwaltungsrats traut man zu, dass er mit seinem Team den Turnaround schafft, denn er hat aus den maroden Berg-Bahnen Brämabüel & Jakobshorn AG eine der wenigen Ertragsperlen der Branche gemacht. Allerdings muss er aus gesundheitlichen Gründen erneut kürzer treten. Nicht nur deswegen eignet er sich nicht für die Rolle des Dorfkönigs. Er ist auch kein Kommunikator, der via Stammtisch Politik macht. Dafür kontrolliert er über seine Jakobshornbahnen nun auch 22 Prozent der Parsennbahnen. Mächtig für Unruhe im Dorf sorgt, dass er sein Geschäft Zug um Zug ausbaut. Er ist mit gegen 1000 Betten in einfachen, aber originellen Unterkünften für Boarder auch der grösste Hotelier am Ort.
Mittlerweile finden sich auch wieder Stimmen, die Mut machen. Armin Egger, der Neue bei Davos Tourismus, betont: «Wir haben gute Voraussetzungen, um Davos als komplettes Produkt anzubieten. Es gilt nun, die Auslastung zu steigern und so die Wertschöpfung zu erhöhen.» Und Hoteldirektor Ernst Wyrsch gibt sich optimistisch: «Es ist auch Aufbruchstimmung zu verspüren, selbst wenn niemand so genau weiss, wohin die Zukunft führt.» Er selbst konnte im Fünfsternhotel Belvédère, das zur Steigenberger-Gruppe gehört, innert vier Jahren den Gewinn von 1,1 auf 3,3 Millionen Franken erhöhen – dank einer Umsatzsteigerung von 6,8 auf 11 Millionen Franken. Allein 1,8 Millionen erwirtschaftet Wyrsch während des WEF. Wirtschafts- und Politprominenz aus aller Welt füllen die Hotels bis unters Dach. Zu Höchstpreisen, sagt Hoteliervereinspräsident Mario Gubser, die rund 30 Prozent über denen liegen, die man sonst im Januar verrechnen könnte.
Das ist die Art von Kundschaft, die sich die «Penthouse-Bar» leisten kann. Im Nightclub im vierten Stock des einstigen Hotels Schützen enthüllen sich einige Ukrainerinnen. Doch selbst am Gunstgewerbe mäkeln die Einheimischen herum: Die Stripperinnen im österreichischen Sölden seien viel schöner, behauptet Pius App. Dafür erreichen die Preise in Davos Weltstadtniveau: Wer sich mit einer der Damen aufs Zimmer zurückziehen will, muss 600 bis 700 Franken hinblättern. Immerhin: Die Flasche Schampus ist in diesem Tarif bereits enthalten.

Partner-Inhalte