Vor dem schweren Eisentor des WEF-Hauptsitzes im Genfer Vorort Cologny findet eine Personenkontrolle statt. Doch damit nicht genug. «Zum ersten Mal muss ich den Kofferraum öffnen», klagt der Taxifahrer. Im Inneren des Glasbaus kennen die mehr als 400 Beschäftigten keinen ruhigen Jahresbeginn. «Bei uns haben alle im Januar Urlaubsstopp», betont WEF-Gründer Klaus Schwab.
Vor dem Beginn des Forums empfängt er in seinem Büro, das als «President’s Meeting Room» angeschrieben ist. Sachbücher füllen die Regale, ein PC fehlt jedoch – genauso wie Tageszeitungen: «Ich nutze nur noch Smartphone und iPad», betont der 77-Jährige.
Bilanz: Herr Schwab, Sie haben bei der Eröffnung des letztjährigen Weltwirtschaftsforums das Jahr 2015 zu einem Schicksalsjahr ausgerufen: Es entscheide sich, ob die Gesellschaften den Weg des Fundamentalismus oder jenen der Integration und Stabilität gingen. Hat der Fundamentalismus gesiegt?
Klaus Schwab: Wir sollten die Fortschritte aus globaler Sicht nicht vergessen: Erstmals haben alle 193 Uno-Mitgliedsstaaten gemeinsame Nachhaltigkeitsziele verabschiedet; wir werden in Davos mit dem Uno-Generalsekretär die Umsetzung diskutieren. Und in Paris haben 92 Nationen die globalen Klimaziele neu definiert. Das zeigt, dass die Staaten fähig sind, bei einem wesentlichen Thema zusammenzuarbeiten.
Ist das nicht ein etwas schwacher Trost angesichts von Terror, stetig ansteigenden Flüchtlingsströmen und dem Erstarken nationalistischer Kräfte in etlichen Ländern?
Die Polarisierung in der Welt hat zugenommen. Wir haben das 2014 mit der Annexion der Krim durch Russland gesehen, im letzten Jahr durch die Eskalation in Syrien und jetzt zu Jahresbeginn mit dem Verschärfen des Konflikts zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Aber wir sehen das auch national. Die Polarisierung nimmt selbst im täglichen Leben zu.
Warum?
Die Bürger müssen heute so viel Wandel verarbeiten, dass sie sich oft überfordert fühlen. Das Vertrauen in die Zukunft hat nachgelassen, die Angst ist gestiegen. Die festen Formen, die unser Leben geprägt haben, verschwinden, und die Bürger suchen nach einer Zukunftsperspektive. Und dann ist es leicht, falschen Versprechungen zu erliegen.
Diese Versprechungen verkörpern oft mehr die Vergangenheit als die Zukunft.
Oft ist es in der Tat ein Zurück in die Vergangenheit. Im Mittleren Osten handelt es sich nicht so sehr um einen Krieg zwischen Schiiten und Sunniten als letztlich um einen Krieg der Modernität gegen das Mittelalter.
Im Konflikt zwischen dem Iran und Saudi-Arabien steht kein Land für Modernität.
Beide Länder tun sich schwer, in der Modernität anzukommen.
Wieweit beeinflussen die Terrorattacken die Sicherheit des diesjährigen WEF?
Selbstverständlich müssen wir uns den neuen Gegebenheiten anpassen. Die Schweiz als Gastgeberland und speziell der Kanton Graubünden haben hier die Zuständigkeit und sind für die Sicherheit der Gäste verantwortlich.
Erleben wir das am stärksten bewachte WEF aller Zeiten?
Überall in der Welt sind die Sicherheitsmassnahmen verstärkt worden, das wird auch auf Davos zutreffen. Dieses Mal sind sicher verstärkte Massnahmen notwendig.
Auch hier am Hauptsitz wurden die Kontrollen verschärft.
Das reflektiert nur, was in der Welt vor sich geht. In Genf wurde vor kurzem eine erhöhte Sicherheitsstufe ausgerufen, die zwar jetzt wieder reduziert ist. Was wir zurzeit in Bezug auf die Notwendigkeit erhöhter Sicherheitsmassnahmen erleben, ist nicht temporär, sondern wird ein dauerhafter Bestandteil unserer Gesellschaft bleiben. Wer früher grossen Schaden anrichten wollte, brauchte grosse Armeen. Heute können Sie einem Gegner mit einer kleinen Gruppe, sogar mit einer Einzelperson grossen Schaden zufügen. Es braucht nicht einmal mehr physische Gewalt: Mit Cyberattacken lassen sich ganze Infrastruktursysteme lahmlegen. Wichtig ist allerdings, dass wir nicht in Hysterie verfallen.
Frankreich, Polen, Ungarn: Der neue Nationalismus in Europa muss für Sie als Inbegriff des Globalisierers eine Bedrohung sein.
Das macht mir sehr grosse Sorgen. Ich gehöre ja zu den wenigen Aktiven, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden. Meine Jugend und auch meine Arbeit für das Forum sind sehr geprägt von den Idealen grosser Europäer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer. Unser Ziel war das Zusammenwachsen Europas auf der Basis gemeinsamer Geschichte und Werte. Die Definition unserer Identität lautete: Wir sind zuerst Europäer, dann in zweiter Linie Franzosen, Deutsche oder Italiener.
Davon ist nicht mehr viel zu spüren.
Heute ist eine neue Generation in den Entscheidungspositionen. Zuerst kommen die nationalen Interessen, dann die europäischen. Dadurch ist es wesentlich schwieriger, Kompromisse zu finden.
Heute sehen viele Regierungen die EU primär als Melkkuh.
Diesen Generationenwechsel hin zum Eigeninteresse haben wir seit zehn Jahren. Was jetzt neu hinzukommt: Die grundeuropäischen Werte werden in Frage gestellt. Dazu gehört die Freizügigkeit – Länder wie Schweden und Dänemark verschärfen plötzlich ihre Grenzkontrollen. Dazu zählt auch die soziale Verantwortung – die Idee der von Ludwig Erhard geprägten sozialen Marktwirtschaft stand Pate bei der Gründung des WEF. Und vor allem sind universale Werte gefährdet wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und eine offene Kultur, die anerkennt, dass wir eine Verpflichtung gegenüber Menschen haben, die in ihrem Land den Tod oder ein elendes Leben riskieren. Dort haben wir eine humanitäre Pflicht. Die europäische Wurzel wird unterhöhlt.
Was heisst das für die wirtschaftliche Entwicklung Europas?
Unser Kontinent ist noch immer die grösste Wirtschaftsmacht und der grösste Handelsverbund der Welt. Das riskieren wir, wenn wir uns zersiedeln und eine Desintegration erfolgt. Dieses Jahr stimmen die Briten über den EU-Austritt ab, es droht der «Brexit». Als Ansammlung von Einzelnationen haben wir kein Gewicht mehr.
Ist die europäische Idee am Ende?
Sie ist gefährdet wie noch nie.
Wo steht da die Schweiz?
Die Schweiz ist ein kleines Spiegelbild Europas. Die Polarisierung hat auch in unserem Land in den letzten Jahren stark zugenommen. Was mich aber optimistisch stimmt: Letzten Endes ist der Konsensus stark verankert, dass Kompromisse im Interesse der Eidgenossenschaft gefunden werden.
Also keine wirklich ernsten Probleme?
Ich habe eine Sorge um die Schweiz. Sie ist gemäss unserem Wettbewerbsbericht das wettbewerbsfähigste Land der Welt. Das Schlüsselwort dafür ist Stabilität. Die haben wir im Finanzsystem, die haben wir im politischen System. Gewiss, die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative oder eine mögliche Annahme der Durchsetzungsinitiative am 28. Februar schaffen Unsicherheit. Aber die ganze Welt ist heute extrem stark von Unsicherheit geprägt, da steht die Schweiz noch immer sehr gut da. Wenn wir auf das neue Jahr schauen, fragen wir uns vor allem: Was sind die «unknown unknowns» – jene Ereignisse, mit denen niemand rechnet? Wer hätte Anfang 2015 die dramatische Flüchtlingswelle vorhergesehen, wer die Attentate in Paris?
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