Völker, hört die Signale! Die alten Klassenkämpfer kehren als Jungsozialisten zurück und fordern mit Sozialdemokraten, Grünen und Gewerkschaftern die gesetzliche Lohnobergrenze. Der höchste Lohn eines Managers oder Unternehmers darf maximal das Zwölffache des tiefsten Lohns im Unternehmen sein. Die 1:12-Initiative, die am 24. November zur Abstimmung kommt, surft auf der Welle der Empörung über Abzocker in den Chefetagen. Doch die Argumente der Befürworter sind einer Paarung von Ideologie und Ignoranz entsprungen. Einer ökonomischen Analyse halten sie nicht stand. Statt mehr Gerechtigkeit zu bringen, unterminiert das Projekt Lohngrenze das Erfolgsmodell Schweiz.
1. Falsche Diagnose
«Verschonen Sie mich mit Fragen über soziale Gerechtigkeit. Kein Mensch weiss, was das ist», wehrte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger kürzlich in einem Interview des «Magazins» ab. Die Wahrheit kennen die Juso dafür umso besser. «1:12 – Gemeinsam für gerechte Löhne» lautet ihr Slogan. Die Lohnschere sei «haarsträubend» und öffne sich weiter.
Das mag für die USA gelten, aber nicht für die Schweiz. Unter den entwickelten Ländern ist die Ungleichheit der Markteinkommen nur in Südkorea geringer als in der Schweiz, weiss die OECD. Der britische «Economist» berechnete, wie lange ein durchschnittlicher Tieflöhner in 22 europäischen Ländern arbeiten muss, um auf den Stundenlohn eines durchschnittlichen Firmenchefs zu kommen. Das Ergebnis: Nur in Norwegen hat es der Arbeiter besser als hierzulande. Dasselbe Bild zeigt die OECD-Statistik betreffend Lohnspreizung, der Differenz zwischen Arbeiter- und Managerlohn. Nur das egalitäre Schweden kann mit der Schweiz mithalten (siehe Grafik).
Der Anteil der Spitzenverdiener an den gesamten Einkommen blieb seit 1933 sehr stabil. In den letzten Jahren konnten die wenigen absoluten Spitzenverdiener – Vasella, Federer, Dougan – zwar auch in der Schweiz stärker zulegen. Die Anteile der Top-Einkommen stiegen allerdings weit weniger als in den USA, in Grossbritannien oder in Schweden (siehe Grafik). Im internationalen Vergleich bleibt die Einkommensverteilung «erstaunlich konstant und sehr gleichmässig», sagt Reto Föllmi, Professor für Makroökonomie an der Universität St. Gallen. «1:12 will in der Schweiz das Problem der USA lösen», sagt George Sheldon, Arbeitsmarkt-Experte und Professor an der Universität Basel. Doch wenn schon die Diagnose falsch ist, kann die Therapie nur Schaden anrichten.
2. Angriff auf den Standort
Nur in wenigen Unternehmen überschreitet der höchste Lohn den tiefsten um mehr als das 12-fache. Die Gewerkschaft Travail Suisse listet deren 27 auf. Es sind fast alles Grossunternehmen, die im globalen Wettbewerb stehen – Nestlé, ABB, Roche, Novartis, UBS, Credit Suisse oder Lindt & Sprüngli. Ohne sie ist der Forschungsplatz nicht denkbar. Sie beschäftigen Hunderttausende, zahlen die schweizweit besten Löhne auch für einfache Angestellte. Die Multinationals mit mehr als 1 Milliarde Jahresgewinn – das sind bloss 2,6 Prozent aller Unternehmen – zahlen 89 Prozent der direkten Bundessteuern.
Die 1:12-Initiative hebelt die Vertragsfreiheit aus und beschädigt die Attraktivität der Schweiz als Konzernsitz oder Forschungsstandort. Zahlreiche Multis führen hier ihr Welt- oder Europa-Headquarter. Lässt sich die 1:12-Regulierung nicht mit juristischen Kniffen umgehen, werden Unternehmen wie ABB, Adecco, Barry Callebaut, Glencore, Procter & Gamble oder Richemont kaum mehr investieren und ihre Konzernaktivitäten mittelfristig ins Ausland verlagern. Der Ölfelddienstleister Noble hat kürzlich den Wegzug nach London bekannt gegeben, unter Verweis auf Regulierungen wie die Minder-Initiative und 1:12.
Derzeit touren Standortförderer aus Singapur und Dubai durch die Schweiz und locken mit Steuerangeboten. Singapurs Regierung garantiert Firmen stabile Steuersätze bis 2050, Dubai für die nächsten 99 Jahre. Das ist besonders heikel, sorgt doch bereits die Unternehmenssteuerreform III für Unsicherheit. Ein stabiler Planungshorizont gehört zu den vier zentralen Standortfaktoren für multinationale Unternehmen.
3. Massive Steuerausfälle
Eine strikte Durchsetzung der Initiative brächte alle Löhne über einer gewissen Schwelle zum Verschwinden. Bei Nestlé wäre der Höchstlohn noch 635 000, bei ABB 546 000 Franken. 2011 verdienten gemäss AHV-Statistik 12 014 Personen über 500 000 Franken, das sind nur 0,26 Prozent aller Festangestellten. Ein Lohndeckel in dieser Höhe würde die Lohnsumme um 5,3 Milliarden Franken im Jahr reduzieren. Bei einem Grenzsteuersatz von 30 Prozent müssste mit Steuerausfällen von 1,5 Milliarden gerechnet werden. Bei einer Lohngrenze von 700 000 Franken resultiert etwa 1 Milliarde an Steuerausfällen.
Damit beschädigt die Initiative, was sie zu fördern vorgibt: Die Umverteilung von reich zu arm. Denn die hohen und sehr hohen Einkommen tragen die Hauptsteuerlast. Die 10 Prozent Bestverdienenden zahlen 77 Prozent der gesamten Steuererträge der direkten Bundessteuer (siehe Grafik). In den Kantonen und Gemeinden dürfte das Verhältnis ähnlich sein.
4. Lecks im AHV-Tanker
Problematisch wäre ein Lohndeckel für die Finanzierung der Sozialversicherungen AHV/IV/EO. «Die Umverteilung ist ein wesentlicher Faktor im Konzept der AHV», hält eine Studie im Auftrag des Bundes fest. So funktioniert die Umverteilung: Zwar versichert die AHV nur Löhne bis 84 000 Franken, aber für die Beiträge – 10,3 Prozent des Lohns – gibt es nach oben keinen Plafond.Die AHV gleicht deshalb einer Steuer auf mittlere und hohe Einkommen. Von der Umverteilung profitieren gemäss Studien zuvorderst Tieflohnbezüger, aber auch Frauen und Ältere.
Ein Lohndeckel bei 500 000 entzöge den Sozialversicherungen über 540 Millionen Franken, ein Deckel bei 700 000 rund 376 Millionen. Summen, die bei einer Annahme nicht zur Umverteilung kämen. «Man schlägt Lecks in den AHV-Tanker», warnte deshalb Andreas Dummermuth, Geschäftsleiter der Ausgleichskasse/IV-Stelle Schwyz.
5. Weit neben das Ziel
Die Initianten gehen davon aus, dass ein Lohndeckel die Lohnschere zwischen hohen und tiefen Löhnen verkleinert. Es wäre jedoch naiv, anzunehmen, die betroffenen Unternehmen würden einfach die hohen Löhne senken. Die entgegengesetzte Reaktion ist für Arbeitsmarktexperte Sheldon viel naheliegender: «Die Unternehmen werden versuchen, die tiefen Löhne loszuwerden.» Die Regulierung trifft ausgerechnet die internationalen Unternehmen, die sie am leichtesten umgehen können: Durch Verlagerung der Konzernfunktionen ins Ausland; durch Outsourcing von Aktivitäten mit tiefen Löhnen an spezialisierte Unternehmen; durch zusätzliche Arbeitsverträge für Spitzenmanager mit konzerneigenen Gesellschaften im Ausland. «Die Initiative kann ihr Ziel, mehr Lohngleichheit herzustellen, gar nicht erreichen», schliesst Reto Föllmi daraus.
Die Juso möchten Verlagerungen gesetzlich verbieten. So müssten die Behörden im Einzelfall prüfen, ob ausgelagerte Aktivitäten als unabhängige Unternehmen anerkannt werden sollen. Oder sie sollen Auslagerungen verbieten, wenn der Tätigkeitsschwerpunkt eines Unternehmens weiterhin in der Schweiz liegt. Das könnte sich allerdings als Bumerang erweisen. Bei den meisten betroffenen Unternehmen ist das Auslandgeschäft schon heute wichtiger als die Schweiz. Sheldon warnt: «Man kann den Unternehmen nicht die Firmenstruktur vorschreiben, sonst geht die Marktwirtschaft vor die Hunde.»
6. Weniger Arbeit und Lohn
Dank der Lohnbegrenzung für Manager würden «die Löhne aller wieder steigen», versprechen die Juso, denn so «würden riesige Lohnsummen frei, die anders unter den Arbeitnehmern zu verteilen sind». Otto Piller, früher SP-Nationalrat und Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen, behauptete: «Wir können davon ausgehen, dass unsere Unternehmen, die heute ihren obersten Chefs exorbitante Löhne und Vergütungen zahlen, nach der Annahme der Initiative im Gesamten die gleiche Lohnsumme zahlen, dass aber die untersten Einkommen zulasten der obersten etwas angehoben werden.»
Warum das so sein sollte, bleibt sein Geheimnis. «Diese Aussage ist ökonomisch völlig unsinnig», sagt Föllmi, «die Lohnsumme ist nicht fix, sie ist kein Kuchen, von dem man beliebig Stücke abschneiden kann.» Es gebe keinen Grund, warum wegen 1:12 der Lohn der Putzfrau steigen sollte. «Löhne orientieren sich an der Produktivität und der Wettbewerbssituation», sagt er.
Die 1:12-Befürworter verweisen auf die Lohndeckel im Eishockey, Basketball oder Football in den USA. «Die hochkommerziellen US-Profiligen sind der Beleg dafür, dass ein 1:12-System funktionieren kann», behauptet «Das Magazin». Das ist grober Unfug, wie jedermann leicht feststellen kann, der den US-Profisport kennt und in Ökonomie bewandert ist. Die Profiligen zeigen nämlich, warum 1:12 nicht funktioniert. Allein der Spielermindestlohn der National Hockey League liegt bei 650 000 Franken, ein Top-Spieler wie der Berner Mark Streit kassiert bei den Philadelphia Flyers gegen 5 Millionen Franken, der Materialwart weniger als einen Hundertstel davon.
Die Erfahrungen aus den Profiligen bestätigen die ökonomische Theorie zu den Wirkungen von Gehaltsobergrenzen. Einerseits sind diese nicht wirklich in der Lage, die Spitzenlöhne zu beschränken, Umgehungen sind alltäglich. Dabei wird der Druck der Lohnobergrenze an die schwächeren Spieler weitergegeben. Wo die Vereine die Obergrenzen tatsächlich durchsetzen, wird Einkommen von den Spielern an die Clubbesitzer umverteilt. Während in europäischen Fussballclubs Mäzene die Löcher stopfen, sind US-Proficlubs oft hochprofitable Unternehmen. Die Umverteilung von Arbeit zu Kapital dürfte allerdings nicht im Interesse der 1:12-Anhänger sein.
Der Vergleich mit dem Sport hat zudem einen entscheidenden Haken. Die US-Profiligen sind Kartelle. Die Spieler können kaum abwandern. Damit hat die Schweiz als kleine, offene Volkswirtschaft keine Ähnlichkeit. Besonders für fähige Manager und gefragte Spezialisten wäre es ein Leichtes, ins Ausland zu wechseln, um der Lohnsenkung zu entgehen. Wenn die Fähigsten ausziehen, verliert die gesamte Volkswirtschaft. Die Wettbewerbsfähigkeit leidet, die Beschäftigung sinkt. Weil weniger produziert wird, steigt die Arbeitslosigkeit, Löhne und Steuereinnahmen sinken. «Wer die Bezüge der Manager gesetzlich begrenzt, verteilt nicht nur zugunsten des Kapitals um. Er trägt auch mit dazu bei, ein Land ärmer zu machen», sagt Norbert Berthold, Volkswirtschaftsprofessor an der Uni Würzburg.
7. Spiel mit dem Feuer
Die Annahme der 1:12-Initiative ist ein massiver Eingriff in die Vertragsfreiheit. Sie beeinträchtigt die internationale Wettbewerbsfähigkeit und führt zu Wohlfahrtsverlusten. «Es ist ein Spiel mit dem Feuer», sagt Ökonom Reto Föllmi: «Im besten Fall entstehen hohe administrative Kosten, im schlechtesten Fall verheerende Effekte. Aber mehr Lohngleichheit ist sicher nicht das Resultat.» Er findet es «paradox, dass man diese Diskussion in einem Land führt, wo der Arbeitsmarkt so gut funktioniert und die Arbeitslosigkeit so tief ist wie nirgends sonst».
1:12 wäre eine Premiere für Marktwirtschaften. Selbst das egalitäre Schweden hat nie mit Lohngrenzen experimentiert, sondern die Verteilung über Steuern beeinflusst. Kuba, neben dem verarmten Nordkorea der letzte Hort der Planwirtschaft, hat vor fünf Jahren den Einheitslohn aufgegeben.