Eingesperrt in Einzelhaft. Im Gerichtssaal zu Moskau vorgeführt in einem Käfig aus Glas. Mit dem hochumstrittenen Prozess gegen Mitglieder der Punk-Rock-Band «Pussy Riot» sendet die sechstgrösste Wirtschaftsmacht der Welt besorgniserregende Signale aus.
Nikolai Polozov, einer der Anwälte von «Pussy Riot», sprach mit «Handelszeitung Online» über die Situation der Angeklagten und die Bedeutung des Prozesses.
Handelszeitung Online: Herr Polozov, die Mitglieder von Pussy Riot sitzen seit bald sechs Monaten im Gefängnis. In welchem medizinischen Zustand befinden sich Nadezhda Tolokonnikova, Maria Aliokhina und Yekaterina Samutsevich?
Nikolai Polozov: Der Gesundheitszustand unserer Klienten ist besorgniserregend. Angemessene medizinische Versorgung für Gefangene gibt es in russischen Gefängnissen nicht. So sind Todesfälle hinter Gittern hierzulande denn auch keine Seltenheit.
Sie behaupten, dass ihre Klienten gefoltert wurden. Können Sie das ausführen?
De facto wurden sie am Schlaf gehindert.
Wie ist das möglich?
Die Gerichtsverhandlungen dauerten phasenweise von zehn Uhr vormittags bis zehn Uhr abends an. Darüber hinaus erhielten die Frauen auch auf dem Weg zum Verhandlungsort nicht die Gelegenheit zu schlafen. Damit blieb ihnen nicht mehr als drei Stunden Schlaf. Ausserdem erhielten unsere Klienten während den Prozesstagen kein Essen und Wasser. Nicht einmal die Toilette durften sie aufsuchen.
Angesichts dieser Erkenntnisse stellt sich die Frage: Weshalb haben sich die Aktivisten von Pussy Riot diesen Gefahren und Qualen ausgesetzt?
Sie werden vom Traum getrieben, eines Tages in einem freien Land zu leben. Ohne Korruption. Ohne bürokratische Willkür und Gesetzlosigkeit.
Pussy Riot drehte das Video des Anstosses in der Kirche. Haben die Mitglieder von Pussy Riot die Reaktion von Wladimir Putin auf diese Provokation unterschätzt?
Pussy Riot hat die Reaktion nicht unterschätzt. Nach russischem Recht hätten die Sängerinnen für die Aktion in der Kirche mit einer Geldstrafe in Höhe von 33 US-Dollar bestraft werden sollen. Darauf haben die Behörden aber verzichtet und die Mitglieder von Pussy Riot stattdessen auf sinnlose Art und Weise die volle Härte des Machtapparates spüren lassen.
Wenn Pussy Riot die Lage richtig eingeschätzt hat: Warum wurde der fünfjährige Sohn von Marija Aljochina und die vierjährige Tochter von Nadeschka Tolokinowa nicht in Sicherheit gebracht? Sie hätten doch in einem anderen Land - beispielsweise in der Schweiz - um politisches Asyl bitten können.
Unsere Klienten sind Künstler. Sie verfügen schlicht nicht über die finanziellen Möglichkeiten, uns zu bezahlen. Zur Frage des politischen Asyls für die Kinder: Wie könnten wir unter diesen Umständen den Kindern auch nur zumuten, sie ohne ihre Eltern in ein anderes Land zu bringen?
Trotzdem entsteht der Eindruck, dass die Sängerinnen mit den Protesten nicht nur sich selbst sondern auch ihr Umfeld in Gefahr gebracht haben. Ist das nicht verantwortungslos?
In Russland zu leben birgt Gefahren. Die Frauen denken bei den Protesten gegen das Putin-Regime aber hauptsächlich an ihre Kinder. Schliesslich werden die Kinder in Russland aufwachsen und leben müssen.
Nun ist es so, dass die Behörden die Kinder benutzen, um die Angeklagten weiter unter Druck zu setzen. So wurde offen damit gedroht, den Eltern das Sorgerecht für ihren Nachwuchs zu entziehen. Aus diesem Grund haben Sie die Vormundschaft für die Kinder beantragt. Wie ist die Lage jetzt?
Weil die Behörden auch Peter Verzilov - den Ehemann von Nadeschka Tolokinowa verhaften wollten - haben wir ernsthaft in Erwägung gezogen, die Vormundschaft für die vierjährige Gera zu beantragen. Dieses Vorgehen hätte radikale Massnahmen seitens der Behörden verunmöglicht. Glücklicherweise wurde auf die Verhaftung von Peter Verzilov bislang verzichtet. Daher hat sich die Gefahr für die Tochter wieder reduziert.
Welches Schicksal würde der Tochter in einem Waisenhaus drohen?
Die Zustände in russischen Kinder- und Waisenhäusern sind schrecklich. Kinder werden in Luftschutzkellern untergebracht. Wir freuen uns aufrichtig, dass den Kindern das Schicksal eines Waisenhauses erspart geblieben ist.
Nadeschka Tolokonowa hat eine 4-jährige Tochter. Wie geht Sie damit um, dass ihre Mutter im Gefängnis sitzt?
Gera vermisst ihre Mutter natürlich. Sie versucht jedoch diese Geschichte mit ihren selbstgemalten Bildern so gut es geht zu verarbeiten.
Wie sehen diese Bilder aus?
Gera zeichnet auf, wie sie gemeinsam mit Freunden ihre Mutter aus dem Gefängnis befreien kann.
Nicht nur die Sängerinnen setzen sich Gefahren aus. Wurden Sie seit Prozessbeginn seitens der Behörden bedroht?
Tatäschlich erhielten wir Drohungen - diese wurden aber nie direkt ausgesprochen.
Das Urteil gegen Pussy Riot wird am Freitag erwartet. Mit welcher Strafe rechnen die drei Künstlerinnen?
Alles andere als der Satz «nicht schuldig» wäre illegal.
Weshalb?
Weil die Aktivitäten unserer Klienten nach russischem Recht keine Straftat darstellen.
Erlauben Sie mir ein Gedankenspiel: Das Gericht verurteilt die drei Frauen von Pussy Riot zu einer Gefängnisstrafe. Daraufhin schaltet sich Präsident Wladimir Putin ein und begnadigt die Sängerinnen. Damit wäre er in den Augen vieler Russen der Retter von Demokratie und Menschenrechten. Glauben Sie an dieses Szenario?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sechs Monate lang im Gefängnis sitzen mussten, nur um nach einem Schuldspruch von Putin feierlich begnadigt und freigelassen zu werden.
Der Gegner: Dem russischen Präsident Wladimir Putin sind die Sängerinnen von Pussy Riot ein Dorn im Auge. (Bild: Keystone)
Nehmen wir dennoch an, dass die Sängerinnen freigesprochen oder begnadigt werden. Was werden Nadezhda Tolokonnikova, Maria Aliokhina und Yekaterina Samutsevich danach tun? Werden Sie mit ihren Familien Russland den Rücken kehren?
Unglücklicherweise führt Wladimir Putin Russland in eine Sackgasse. Deshalb wird der Kampf für die Freiheit weitergehen.
Wie soll der Westen Ihrer Ansicht nach auf eine Verurteilung von Pussy Riot reagieren? Wären Wirtschaftssanktionen angemessen oder sollte die Welt die Olympischen Spiele in Sotschi 2014 boykottieren?
Kein Zweifel: Die Internationale Gemeinschaft muss gegenüber der russischen Regierung in der «Pussy Riot-Frage» eine harte Haltung einnehmen. Ich hoffe daher, dass die Annahme des Magnitski-Instruments in den USA beschleunigt wird und auch entsprechende Gesetze in der Europäischen Union ausgearbeitet werden. Das wird die Menschen, welche die Menschenrechte in Russland mit Füssen treten, zum Nachdenken bringen.
Der Pussy-Riot-Verteidiger spricht vom Skandal um den verstorbenen russischen Juristen Sergej Magnitski. Dieser hatte vor vier Jahren die Verbrechen einer organisierten Gruppe aufgedeckt. Die Straftaten sollen sich von Entführungen über Erpressungen und Diebstahl bis hin zum Betrug erstreckt haben.
Magnitski beschuldigte Mitarbeiter des russischen Innenministeriums, mit dieser Gruppe gemeinsame Sache oder zumindest mit ihnen kooperiert zu haben. Zudem soll die mächtige Gruppe laut Recherchen von «Welt Online» bis in die oberen Etagen des russischen Politapparates vernetzt gewesen sein und dabei bis zu einer Milliarde US-Dollar aus dem Staatshaushalt veruntreut haben.
Diese Macht bekam denn auch Magnitski zu spüren. Nach den erhobenen Vorwürfen wurde der Anwalt im Jahre 2008 festgenommen. Ein Jahr später verstarb Magnitiski in einem russischen Gefängnis. Der Politskandal führt auch in die Schweiz: Die Schweizer Staatsanwaltschaft prüft laut dem deutschen Nachrichtenportal derzeit geheime Konten bei der Credit Suisse.
Im Zuge dieser Affäre arbeitet der US-Kongress derweil an einem Gesetzesentwurf. Dieser soll Russland mittels Sanktionen dazu zwingen, den Fall unter die Lupe zu nehmen. Nun hofft Nikolai Polozov - Verteidiger von Pussy Riot - dass auch die Europäische Union ein ähnliches Gesetz in Angriff nimmt.