Diese Kolumne erreicht Sie aus den Ferien. Zwei Wochen wandern, biken, mit einem Roman in der Sonne liegen und edlen Südtiroler Wein verkosten – so lässt es sich leben. Leider nimmt das gute Leben nach dem Urlaub meist ein jähes Ende. Wir kehren zurück zur vollen Mailbox und zu langen Arbeitstagen. Aber muss das sein? Könnten, ja sollten wir nicht einen Gang runterschalten?

Isabel Martínez arbeitet an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, ein Schwerpunkt ihrer Forschungsarbeit liegt auf Verteilungsfragen. Die promovierte Ökonomin gehört dem internationalen Forschungsnetzwerk des Volkswirtschaftlers Thomas Piketty an, das eine Weltungleichheitsdatenbank aufbaut: WID.world.

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Kritische Stimmen beteuern regelmässig, dass unsere Gesellschaft dem ökonomischen Wachstumsdiktat zum Opfer gefallen ist. Einem Diktat, das nicht nur uns Menschen ausbeutet, sondern auch die Umwelt zerstört und den Klimawandel verursacht hat. Doch bei genauem Hinschauen zeigt sich, dass ein Wachstumsstopp globale Probleme nicht löst, sondern gar noch verschlimmert.

Drei Beispiele:

1. Armut. Das starke Wirtschaftswachstum (besonders in Asien) hat über die letzten dreissig Jahre fast eine Milliarde Menschen aus tiefster Armut geholt. Wer einen Wachstumsstopp fordert, verlangt, dass jede sich zufriedengibt mit dem, was sie hat. Das ist nett, wenn man bereits zu den Privilegierten gehört, vierzig Stunden die Woche arbeitet und trotzdem in einer hübschen Wohnung lebt, sich schnell und bequem fortbewegen kann und in den Genuss einer guten Bildung gekommen ist. Es ist aber blanker Hohn für all jene, die sich für sich und ihre Kinder ebenfalls mehr Wohlstand wünschen.

2. Ungleichheit. Wer einen Wachstumsstopp fordert und gleichzeitig globale Ungleichheit bekämpfen will, sollte sich vor Augen halten, dass das globale, kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf 2020 rund 17 000 Dollar betrug. Das ist etwa so viel wie in China, Botswana oder Nord-Mazedonien. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es gut 71 000 Dollar pro Kopf. Im Schnitt müssten wir aber alle auf dem heutigen Entwicklungsstand Chinas leben. Verteilungskämpfe würden sich verschärfen, denn wirtschaftlicher Aufstieg wäre ja nur noch auf Kosten anderer möglich – und wer gibt schon gerne was ab?

«Die Frage lautet also nicht, ob wir Wachstum brauchen, sondern wie wir dieses gestalten und verteilen.»


3. Umwelt- und Klimaschutz. Ökonominnen sind sich einig, dass Wachstum nachhaltig sein muss. Zerstören wir unsere Lebensgrundlage durch Übernutzung, ist irgendwann ausgewirtschaftet. Nur: Eine grüne Ökonomie können sich vor allem reiche Länder leisten. So war der Rhein in den 1960er Jahren derart verschmutzt, dass nicht mal das Vieh das Wasser trinken mochte. Heute kann man bedenkenlos darin baden. China hat zwar noch immer mit massiven Umweltschäden zu kämpfen, doch immerhin geht die Menge der ungefilterten industriellen Abwässer dank moderneren Produktionsabläufen zurück. Dies verdanken wir – oft zusammen mit politischem Druck aus der Bevölkerung – umweltfreundlichen Technologien.

Diese fallen aber nicht vom Himmel, sie müssen erfunden, entwickelt und vermarktet werden. Wollen wir beispielsweise Ökostrom global billig verfügbar machen, müssen innovative Firmen ihre Produkte auf der ganzen Welt verkaufen können. Dieser Prozess – Innovation, Produktion, Absatz – bedeutet Wachstum.

Die Frage lautet also nicht, ob wir Wachstum brauchen, sondern wie wir dieses gestalten und verteilen – für ein gutes Leben auch nach den Ferien.