Putin sei ein «Schlächter», sagte Biden am Samstag bei einem Besuch des Nato-Mitglieds Polen. Der russische Staatschef dürfe deshalb auch nicht länger im Amt bleiben, erklärte Biden einige Stunden danach in einer Grundsatzrede über Russland. Ein Sprecher des amerikanischen Präsidialamts stellte wenig später klar, Biden habe mit seiner Äusserung gemeint, dass Putin keine Macht auf seine Nachbarländer oder die Region ausüben dürfe. Biden habe nicht über Putins Macht in Russland oder einen Regimewechsel gesprochen. Ein Kreml-Sprecher sagte, dass Biden nicht über Putin zu entscheiden habe.
Seit Beginn der Invasion russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar sind nach Angaben der Vereinten Nationen vom Samstag mindestens 1081 Zivilisten getötet und 1707 weitere verletzt worden. Die tatsächlichen Zahlen seien wahrscheinlich höher. Die Ukraine sprach von 136 getöteten Kindern. Die Gesamtzahl der gefallenen und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten geht nach russischen wie nach ukrainischen Angaben in die Tausende. Die Angriffe und Kämpfe dauerten in mehreren Landesteilen an. Ein Kreml-Sprecher kritisierte Bidens Äusserung. Damit würden die Aussichten auf eine Verbesserung der Beziehungen geschmälert.
Biden äusserte sich in Warschau zurückhaltend über jüngste Annahmen, Russland könne im Ukraine-Krieg einen Strategiewechsel eingeschlagen haben. Er sei sich dessen nicht sicher. Die Regierung in Moskau hatte zuletzt erklärt, sich nun auf eine «Befreiung» der ostukrainischen Region Donbass zu konzentrieren. Das war von westlichen Beobachtern als Kurswechsel gedeutet worden. Seit dem Einmarsch vor gut vier Wochen hatte die russische Armee zwar im Süden und Osten der Ukraine Geländegewinne erzielt. Im Norden hingegen stockt der Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew. Westliche Militäranalysten sagten, eine Neupositionierung könne es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ermöglichen, einen gesichtswahrenden Sieg auszurufen.
Russland setzt Angriffe auf mehrere Städte fort
Biden versicherte dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda bei einem Treffen die Unterstützung Polens und anderer Nato-Mitglieder und bezeichnete dies erneut als «heilige» Verpflichtung der USA. Zudem begrüsste Biden in Warschau auch den ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba und den ukrainischen Verteidigungsminister Oleksij Resnikow, die sich mit ihren US-Kollegen Anthony Blinken und Lloyd Austin zusammengetroffen waren. Kuleba, dessen Land nicht der Nato angehört, sagte, er habe von den USA weitere Zusagen über eine Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich erhalten.
Russland setzte seine Angriffe auf mehrere Städte ukrainischen Angaben zufolge fort. So nahmen laut dem Gouverneur der Region Kiew, Oleksandr Pawljuk, russische Truppen im zweiten Anlauf die Stadt Slawutytsch in der Nähe des stillgelegten Atomkraftwerks Tschernobyl ein. In Slawutytsch an der Grenze zu Belarus leben Mitarbeiter der Nuklearanlage, die selbst bereits seit einiger Zeit unter russischer Kontrolle steht. Die Berichte ließen sich zunächst nicht überprüfen.
Auch in der für den Getreideexport wichtigen Hafenstadt Mariupol dauerten die Straßenkämpfe an. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verglich die Zerstörungen mit denen im syrischen Aleppo und warnte vor den Folgen für die Welt: "Fehlende ukrainische Exporte werden Ländern weltweit einen Schlag versetzen." Die Ukraine gehört zu den weltgrössten Getreideproduzenten.
In Lwiw im Westen der Ukraine etwa 60 Kilometer von der polnischen Grenze schlugen dem Gouverneur Maksym Kosyzkyj zufolge vier Raketen ein. Fünf Menschen seien verletzt worden. Zuvor hatte er mitgeteilt, es habe drei schwere Explosionen am östlichen Rand der Stadt gegeben. Reuters-Augenzeugen berichteten von einer starken schwarzen Rauchwolke über dem nordöstlichen Lwiw.
In Tschernihiw können laut dem Bürgermeister Wladyslaw Atroschenko 44 Schwerverletzte, darunter drei Kinder, nicht zur medizinischen Behandlung abtransportiert werden, weil die Stadt im Norden des Landes inzwischen von russischen Truppen eingeschlossen sei.
Vize-Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk sagte im ukrainischen Fernsehen, Zivilisten solle erneut über Fluchtkorridore ein Verlassen von Städten ermöglicht werden. Einer Vereinbarung zufolge sollten Zivilisten aus der besonders unter russischem Beschuss stehenden Hafenstadt Mariupol mit Privatautos flüchten, weil russische Kräfte keine Busse passieren ließen, sagte sie.
Nach Angaben der Vereinten Nationen haben seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar rund 3,7 Millionen Menschen die Ukraine verlassen.
Die Ukraine und westliche Länder sprechen von einem Angriffskrieg und einer russischen Invasion. Russland bezeichnet sein Vorgehen in der Ukraine dagegen als Spezialoperation zur Demilitarisierung und Entnazifizierung des Landes.
Sorgen vor Lebensmittel- und Energieengpässen
In Deutschland, Europa und der Welt hat der Ukraine-Krieg Sorgen vor Lebensmittel- und Energieengpässen geschürt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte, andere energieproduzierende Ländern müssten in die Bresche springen, um die Abhängigkeit von russischen Vorkommen zu verringern. Dann könne Russland seine Öl- und Gasvorkommen nicht «als Waffe einsetzen, um die Welt zu erpressen», sagte Selenskyj.
Unterdessen dämpfte das international umworbene Öl- und Gasförderland Katar die Erwartungen Deutschlands und anderer westlicher Staaten an ein rasches Ende ihrer Abhängigkeit von Lieferungen aus Russland. Er denke nicht, dass Katar unmittelbar helfen könne, sagte Energieminister Saad al-Kaabi auf einer Konferenz in der katarischen Hauptstadt Doha. Niemand könne die russischen Lieferungen derzeit ersetzen.
tim/Reuters