Das Bündner Südtal Misox fühlt sich als «Eldorado» für Briefkastenfirmen. In der Bevölkerung wächst das Unbehagen ob der schieren Anzahl undurchsichtiger Scheinfirmen. Von den Behörden werden «endlich» Taten erwartet.
Nach Berichten in italienischsprachigen Medien werden nun auf dem politischen Parkett Gegenmassnahmen gefordert. Der Misoxer Grossrats-Stellvertreter Hans Peter Wellig (FDP) wandte sich in einer Interpellation an die Kantonsregierung und in der Bündner Bevölkerung südlich des San Bernardino werden Unterschriften für eine Petition an Kanton und Bund gesammelt.
Das Phänomen der überproportional vielen Briefkastenfirmen ist weder im Misox noch im angrenzenden Tessin neu. Seit aber das Tessin 2014 bei Kontrollen die Schrauben anzog, fand eine Verlagerung von Firmen aus dem Südkanton in die Bündner Südregion statt.
Grono: Eine Firma auf zwei Einwohner
Knapp 300 Unternehmen wurden seither verschoben, wie die Bündner Regierung in der Antwort auf Welligs Interpellation schreibt. Davon existiert bereits jedes Dritte nicht mehr, wegen Konkurs, Liquidation oder erneuter Verlagerung. Von den verbliebenen beschäftigt nach eigenen Angaben nur die Hälfte Angestellte.
Das Ausmass der Misere wird von der Gesamtzahl der im Tal registrierten Firmen verdeutlicht. Es sind 1600 bei einer Einwohnerzahl von 8300. Unwirklich gar wird es im 1000-Seelen-Dorf Grono. Dort kommt eine Firma auf zwei Einwohner. Zum Vergleich: Im ebenfalls italienischsprachigen Südtal Puschlav liegt das Verhältnis bei weniger als eins zu zwölf.
Wie Recherchen von Radio und Fernsehen der italienischen Schweiz RSI von letzter Woche zeigen, weiss niemand so recht, wer hinter diesen Unternehmen steht und welche Geschäfte sie betreiben. Im Bündner Handelsregister sind Firmen eingetragen mit fiktiven Adressen und inexistenten Strassennamen.
Verdacht einer Misox-Connection
In der Luft liegt der Verdacht auf Geldwäsche und Verbindungen zur Mafia. Angesichts der geografischen und sprachlichen Nähe zu Italien ein offenbar auch für die örtliche Polizei naheliegender Verdacht, wie RSI berichtete. Bloss – Fakten sind keine bekannt, bewiesen wurde noch nichts.
Konkreter sind Fälle, in denen mittels Firmengründungen, Aufenthalts-Bewilligungen, Schein-Arbeitsverträgen und anschliessenden Konkursen Arbeitslosengelder erschlichen wurden. Öffentlich machte die Problematik wiederum Grossrats-Stellvertreter Wellig in seiner Petition.
Für Sozialversicherungen und Arbeitslosenkassen führe das zu «beachtlichen organisatorischen und finanziellen Problemen», schrieb er. Zudem entfielen Steuereinnahmen als Folge von Betreibungs- und Konkursverfahren.
Regierung ist aufgewacht
Wellig liefert Zahlen. Von 2013 auf 2014 ist die Anzahl der vom Misoxer Betreibungsamt ausgestellten Zahlungsbefehle um 170 Prozent auf 3429 angewachsen. Im Jahr 2016 waren es dann 4128 Zahlungsbefehle, einer auf zwei Einwohner. Im Puschlav liegt das Verhältnis bei eins zu acht.
Machte die Regierung in der schriftlichen Beantwortung der Interpellation Ende Sommer noch einen nicht allzu aktiven Eindruck, wurde die Dringlichkeit des Problems für die Kantonsbevölkerung ennet Pass und Sprachgrenze in Chur nun offenbar erkannt.
Der Kanton habe die Kontrollen bereits verschärft, versicherte Volkswirtschaftsdirektor Jon Domenic Parolini bei der Behandlung der Interpellation letzten Mittwoch im Parlament. «Das Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit überprüft jeden einzelnen Betrieb», erklärte er. Bei 160 Unternehmen bestehen laut Parolini Zweifel, ob eine Betriebsstätte vorhanden ist. 45 Unternehmen wurden bereits kontrolliert und 19 wurde die Arbeitgebereigenschaft abgesprochen.
Bei strengeren Kontrollen soll es nicht bleiben, erklärte der Volkswirtschaftsdirektor einen Tag später im Interview mit dem «Regionaljournal Graubünden» von Radio SRF. Geplant sei eine Zusammenkunft mit allen involvierten Ämtern, allen betroffenen Gemeinden und Vertretern des Tessins. Ziel sei es, gemeinsam «zu versuchen, das Problem in den Griff zu kriegen».
(sda/ise)