Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Brexit-Referendum ist Grossbritannien ab morgen Samstag kein Mitglied der Europäischen Union mehr.
Im Regierungsviertel in London standen sich Demonstranten beider Seiten des Brexit-Streits unversöhnlich gegenüber. Gegner des EU-Austritts, die in einem weitgehend stummen Protestzug vom Regierungssitz Downing Street in Richtung Parlament zogen, wurden von Brexit-Befürwortern teils mit wüsten Beschimpfungen und Sprechchören empfangen.
In Brüssel schwang zum Abschied viel Wehmut mit, doch auch in London herrschte kaum Feierlaune. Politiker auf beiden Seiten des Ärmelkanals betonten aber auch Zukunftschancen und die eigene Stärke.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel äusserte den Wunsch nach einer engen Beziehung auch in der Zukunft. «Das ist ein tiefer Einschnitt für uns alle», sagte sie in ihrem Podcast am Freitag. Deutschland wolle aber enger Partner und Freund von Grossbritannien bleiben, «denn uns einen gemeinsame Werte».
Knappe Frist
Bis Jahresende gilt eine Übergangsfrist, in der sich fast nichts verändert. In der Zeit wollen Brüssel und London klären, wie sie künftig im Handel und vielen anderen Politikfeldern zusammenarbeiten. Die Frist ist allerdings sehr knapp.
«Wir gehen in diese Verhandlungen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen», sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem gemeinsamen Auftritt mit EU-Ratschef Charles Michel und EU-Parlamentspräsident David Sassoli.
Die drei hatten sich mit einem Zeitungsbeitrag überall in Europa zu Wort gemeldet. Die Botschaft: Die EU wolle eine möglichst enge Partnerschaft, doch werde sie auch die eigenen Interessen schützen.
Mit gutem Willen werde man eine "dauerhafte, positive und sinnvolle Partnerschaft" aufbauen können, schrieben die drei Präsidenten. Aber: «Ohne gleiche Wettbewerbsbedingungen bei Umwelt, Arbeit, Steuern und staatlichen Beihilfen kann es keinen qualitativ uneingeschränkten Zugang zum Binnenmarkt geben.»
Hartes Ringen programmiert
Ein hartes Ringen ist absehbar. Wie der britische Premierminister Boris Johnson bereits durchsickern liess, will er sein Land von der Anbindung an EU-Regeln möglichst frei machen, selbst wenn dies Handelsschranken wie Zölle bedeuten könnte. Souveränität sei wichtiger als reibungsloser Handel, will er nach einem Bericht der Zeitung «Telegraph» nächste Woche als Ziel ausgeben.
Die drei EU-Präsidenten zeigten sich bei ihrem gemeinsamen Auftritt auch selbstkritisch - immerhin ist Grossbritannien der erste EU-Staat der Geschichte, der die Staatengemeinschaft verlässt. Als Lehre aus dem Brexit werde sich die EU mehr um die Unterstützung ihrer Bürger bemühen und den Wert des Projekts im Alltag sichtbarer machen, sagte Michel.
Johnson betonte seinerseits die Chancen des Neuanfangs für sein Land. «Es ist ein Moment der echten nationalen Erneuerung und des Wandels», erklärte der Premier vorab aus einer Videobotschaft, die für den Abend (23 Uhr MEZ) vorgesehen war. Seine Aufgabe sei es nun, das Land zu einen und voranzubringen.
Farage feiert
Die britische Regierung hatte nur Feiern ohne viel Pomp zum Zeitpunkt der historischen Zäsur um 23 Uhr Ortszeit angesetzt - ohne Geläut des Big Ben, nur mit britischen Flaggen am Parliament Square und einem projizierten Countdown am Regierungssitz. Bei einem Empfang in der Downing Street sollen englischer Schaumwein und britische Spezialitäten gereicht werden.
Ausgelassene Feiern vor dem Parlament hatten nur die Brexit-Partei und ihr Chef Nigel Farage unter dem Motto «Leave means Leave» für Freitagabend organisiert. Ein Feuerwerk wurde Farage allerdings untersagt.
Die EU-Abgeordneten der Brexit-Partei feierten schon am Morgen ihren "Brexodus" aus Brüssel. «Heute ist der Tag, an dem Grossbritannien nach mehr als 40 Jahren wieder frei wird», sagte die Abgeordnete Ann Widdecombe.
Demonstrationen in Nordirland
Brexit-Gegner in Dover hielten dagegen. «We still love EU» - «Wir lieben die EU noch immer» -, schrieben sie auf einem riesigen Banner in der britischen Hafenstadt. Irlands Premierminister Leo Varadkar betonte in der Zeitung «Welt»: "Was auch immer geschieht, ich hoffe, dass die Tür immer offen steht, sollte das Vereinigte Königreich jemals entscheiden, zurückkehren zu wollen."
Auch in Nordirland demonstrierten an mehreren Orten Brexit-Gegner. So forderten vor dem Sitz des nordirischen Regionalparlaments in Belfast Anhänger der Partei Sinn Fein ein Referendum zur irischen Wiedervereinigung.
Am Abend wollten hingegen Brexit-Befürworter vor dem Regionalparlament demonstrieren. Der britische Landesteil grenzt an den EU-Staat Irland und ist daher besonders vom EU-Austritt betroffen. Die Nordiren hatten mehrheitlich gegen den EU-Austritt gestimmt.
(sda/tdr)