Nadia S. (43) ging letzten Samstag zum Test ins Genfer Kantonsspital. Danach schickte man sie nach Hause. Am Sonntag bestätigte ihr ein Arzt telefonisch, sie sei mit dem Coronavirus angesteckt. Sie könne sich zu Hause selber pflegen. Sie solle sich einfach bis Ende März isolieren.
Er liess ihr ein Rezept in eine Apotheke faxen, damit sie die nötigen Medikamente erhielt, darunter ein starkes Schmerzmittel. Am meisten quälten sie Gliederschmerzen.
Dunkelziffer von 3 bis 5
Nadia ist eine von Tausenden Menschen, die nur milde Symptome von Covid-19 entwickeln. Sie hat neben ihren zwei kleinen Kindern (acht und elf Jahre) zwei junge Erwachsene und einen 50-Jährigen angesteckt. Die Kinder blieben symptomfrei, die Erwachsenen entwickelten drei bis vier Tage nach der Ansteckung ebenfalls gewisse Symptome. Sie alle liessen sich aber nicht testen. Sie verarzten sich zu Hause und warten, bis das Schlimmste vorüber ist.
Nadias Beispiel erklärt die Dunkelziffer der Angesteckten. Auf derzeit rund 10’000 positiv Getestete in der Schweiz kommen wohl weitere 30’000 bis 50’000 Menschen dazu, die Covid-19 ebenfalls erwischte – doch sie liessen sich gar nicht testen.
Das Verhältnis von Getesteten und unbekannten Angesteckten nennt sich Dunkelziffer. «Die Dunkelziffer beträgt gemäss meiner Schätzung 3 bis 5», sagt Richard Neher. «Die Zahl der mit dem Coronavirus Angesteckten ist also drei- bis fünfmal grösser als die der positiv Getesteten.» Neher ist Professor an der Universität Basel und Forschungsgruppenleiter am dortigen Biozentrum. Diese Zahl variiere stark von Land zu Land.
Errechnet haben Wissenschafter dies aus Studien in Südkorea, Singapur und von Kreuzfahrtschiffen, die in Quarantäne waren. «Auf Schiffen hat man alle Personen getestet, bevor sie von Bord gingen und in Quarantäne gesteckt wurden. Man kennt die Verläufe bis zum Schluss.»
Bei Letzteren gibt es also keine Dunkelziffer. Aus dem Unterschied dieser Daten und jener in Ländern wie Korea und China kann man auf die Dunkelziffer schliessen.
Ausgangspunkt: Zahl der Toten
Dennoch besteht eine grössere statistische Unsicherheit. Es gibt nämlich noch eine zweite Möglichkeit, diese zu schätzen. Der Ausgangspunkt ist die Zahl der Toten. Diese werden in den meisten Ländern systematisch erfasst. China, Korea, Singapur und Italien zeigen, dass das Verhältnis der Anzahl Verstorbener zur Anzahl der Angesteckten stabil ist. «Wir gehen derzeit bei Covid-19 von einem Toten auf hundert Infizierte aus», sagt Neher.
Auf dieser Basis könnte man die Zahl der Infizierten rückwirkend schätzen. Am Donnerstag wurden vom BAG 161 Coronavirus-Opfer gemeldet (Stand Donnerstag früh). Die Zeit, die von den ersten Symptomen bis zur Genesung oder zum Tod verstreicht, beträgt ein bis zwei Wochen. «Das heisst: Es gab wohl Mitte März rund 16’100 Infizierte in der Schweiz», so Neher. Am 16. März waren 2269 getestete Infizierte gemeldet.
Dieses Verhältnis – 16’100 geteilt durch 2269 – würde für eine Dunkelziffer von 7 sprechen. Geht man vom 19. März aus – es gab zu diesem Zeitpunkt 3000 positiv Getestete –, so würde der Dunkelziffer-Quotient 5 betragen. So hoch schätzen auch Neher und einige internationale Studien den Wert.
Leichte Verläufe und Gesundete
Der allergrösste Teil der Erkrankten erlebt keine oder vergleichsweise milde Symptome. Konkret: Ungefähr die Hälfte aller Infizierten hat keine oder nur leichte Symptome, schätzt Neher. Allerdings: Die Unsicherheit sei noch hoch, der Rahmen liegt wohl zwischen 40 und 60 Prozent. Bei Kindern sei der Anteil der leichten und symptomfreien Ansteckungen sicher höher. Andere Quellen – darunter die WHO – sprechen von 80 Prozent milden Verläufen.
Dies sei bisher eine Vermutung: Solide Daten gebe es dazu nicht, sagt Milo Puhan, Epidemiologe an der Universität Zürich.
Was wegen der vielfach dramatischen Schlagzeilen in den Medien oft vergessen geht: Die meisten Angesteckten werden rasch wieder gesund. In den Medien tauchen kaum je Geheilte auf.
«… einige Hunderttausend wieder gesund»
So wie es eine Dunkelziffer der Infizierten gibt, gibt es auch eine Dunkelziffer der Gesundeten. «Inzwischen kann man davon ausgehen, dass in der Schweiz einige Zehntausend Menschen wieder gesundet sind», sagt Richard Neher. In Italien seien gar «einige Hunderttausend Leute wieder gesund».
Auch der Bund lässt durchblicken, dass es etliche milde Verläufe gibt. «Krankheitsverläufe sind für die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht schwer», bemerkte Gesundheitsminister Alain Berset am Mittwoch in Bern.
Einen Tag zuvor hatte der Experte des Bundesamts für Gesundheit, Patrick Mathys, bereits betont: «Der absolut grösste Teil der Bevölkerung wird erkranken, krank sein – und wieder genesen.»
Die Genesenen haben derzeit ein sehr kleines Risiko, am gleichen Virus erneut zu erkranken. Dies bestätigte Daniel Koch am Freitag (27. März), an der Pressekonferenz. Er sagte, diese Menschen sollten sich daran erfreuen, ein «kleines Risiko zu haben», aber forderte sie auf, die Abstandsregeln dennoch einzuhalten. Dies, weil für Dritte von aussen nicht erkennbar sei, dass jemand die Krankheit schon durch gemacht habe.
Negatives Bild durch Zahl der Gesundeten ergänzen
Wie viele Genesene es sein könnten, will das BAG nicht schätzen, versprach aber, die Frage sehr bald zu klären. Andere Länder wie China und Südkorea haben es gemacht. Doch auf die Frage, ob man ausländischen Zahlen trauen kann – zumal aus der Diktatur China –, sagt Epidemiologe Neher Ja: «In China wurde sehr umfangreich getestet, die positiv Getesteten wurden isoliert und überwacht. China hatte diese Möglichkeit. Die Zahlen aus China wurden von der WHO bestätigt und gelten nicht als Propaganda.»