Ich finde China prima. Gut organisiert, modern, schnell, sicher. Selbst in einer Mega-Metropole wie Schanghai können Sie Ihre Kinder im Primarschulalter alleine auf Abenteuerfahrt in die U-Bahn schicken – was in London oder Paris kaum denkbar und in Los Angeles schlicht verboten wäre. Vor Museen, Malls oder Metrostationen stehen manchmal schicke junge Leute, die Ihr Gepäck durchleuchten wie bei uns am Airport; und wenn die Sie als Ausländer erkennen, entschuldigen sie sich nett: «Sorry for the inconvenience. It’s just for your security.»
Es ist nur zu Ihrer Sicherheit. Das grösste Risiko in einer chinesischen Metropole besteht wohl darin, in einen dieser lautlosen Elektroroller hineinzustolpern, welche die Strassen bevölkern; denn die Behörden setzen schon seit Jahren durch, dass zweirädrige Benziner verschwinden.
These, Antithese, Synthese
Eine prima Sache. Für mich artet das allerdings langsam zu einem Schreckensbild aus: Was wäre, wenn dies das neue Vorbild wäre?
Die Regierung begrenzt per Gesetz die wöchentliche Game-Zeit für Kinder. Die Regierung beschränkt Werbung für Schönheitsoperationen. Die Regierung sorgt mit einem feinen Zertifikatesystem dafür, dass keiner bei Rot über die Strasse läuft und alle beim Blutspenden mitmachen. Die Regierung stutzt den Unternehmer-Milliardären die Flügel und erinnert sie drohend an ihre Pflichten fürs Gemeinwohl. Die Regierung gibt den mächtigen Tech-Konzernen den Tarif durch und nimmt deren Datenberge unter Kontrolle; das möchten die Europäer ja irgendwie auch, aber die kommen doch keinen Schritt vorwärts dabei.
Nudging statt Massenmord: Der Kommunismus 2021 kaserniert seine Bürgerinnen und Bürger nicht mehr, er umgarnt sie. Und er ist weitsichtig genug, seine Macht nicht mit Gulags zu sichern (oder wenn, dann nur regional). Nein, er lächelt Sie an wie Xi Jinping auf allen offiziellen Bildern.
Und so kommt einem die Frage, was die schicken jungen Leute im Gepäck eigentlich zu suchen haben, bald gar nicht mehr in den Sinn.
«Gut möglich, dass das Duell zwischen Kommunismus und Kapitalismus jetzt in die nächste Runde geht.»
Auch bei uns lassen sich viele Menschen vom Charme dieser schönen neuen Welt betören, selbst wenn sie sich dessen oft gar nicht bewusst sind. Gut denkbar also, dass das Duell zwischen Kommunismus und Kapitalismus jetzt gerade in die nächste Runde geht.
Es gab eine Zeit – nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre –, da schien die Sowjetunion für viele das wahre Zukunftsmodell. Dann kam eine Zeit, da wurde definitiv klar, dass die Roten nicht bloss brutal und blutig sind, sondern auch ein unfähiges Wirtschaftssystem haben. Dann folgte eine Zeit – nach der Perestroika –, als es unausweichlich schien, dass diese Ideologie ins Grab fährt.
Aber vielleicht kommt nun eine Zeit, in der sie doch wieder als Zukunftsmodell dasteht.
Sie hat in ihrer chinesischen Version kapitalistische Stärken übernommen, während die Demokratien allerlei patriarchalische Nanny-State-Tricks von dort abkupfern. Erinnern wir uns also an den Grundgedanken von Hegel, Marx und Engels: Die Geschichte verläuft in Widersprüchen – These und Antithese –, die sich annähern und am Ende in der Synthese aufgelöst werden. Es sollte uns eine Warnung sein.
1 Kommentar
Die Methoden der Kommunisten in China waren auch Ende des 20. Jahrhunderts wesentlich ausgewogener und humaner als die Methoden der neuen Technokraten in Russland. Die Chinesen propagierten einen langsamen Wechsel,,das Hineinkriechen in den Kapitalismus“, dabei wurden Schritt für Schritt zuerst kleine Unternehmen privatisiert. In Russland erlaubte sofort die Privatisierung der Großbetriebe, was zu enormer Korruption, unrechtmäßiger Bereicherung und Entstehung der mächtigen Oligarchen führte.