Zwänge sind nie etwas Gutes. Das hat die SVP schon lange begriffen und bewirtschaftet das Thema denn auch konsequent. Ob «Impfzwang», «Zwangsgebühren» für die SRG oder «Solaranlagen-Zwang»; wer Freiheit will, wählt SVP. Ja, wir haben verstanden.

Nun also auch noch die Krankenkassen. «Meiner Meinung nach sollte sogar eine Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung in Betracht gezogen werden», sagte die Zürcher Gesundheitsdirektorin, Natalie Rickli, in einem Interview mit der «Sonntagszeitung». Das geltende Krankenversicherungsgesetz (KVG) sei gescheitert, es brauche Reformen. 

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Reformen sind ohne Frage nötig. Aber eine Streichung des Kassenobligatoriums geht zu weit. Und wäre vermutlich auch nicht mehrheitsfähig.

Unbestritten ist, dass das einstige Abstimmungsversprechen für das KVG nie eingehalten wurde: Dass die obligatorische Krankenversicherung zu einer Stabilisierung der Prämien führe. Diese steigen Jahr für Jahr. Mal etwas mehr, mal etwas weniger. 

Daher ist eine Diskussion darüber richtig, welche Leistungen von der obligatorischen Versicherung getragen werden müssen. Soll jedermann Zugang zu Alternativmedizin haben, oder sollte diese Alternative nicht privat bezahlt werden müssen? Sollen Krankenversicherer teure Originalpräparate bezahlen, wenn es Generika gibt? Oder nicht einfach nur die billigste Kopie?

Rickli erwähnt auch die freie Arztwahl. Schon heute gibt es – gute – Versicherungsmodelle, die die freie Arztwahl einschränken und im Gegenzug günstigere Prämien ermöglichen. Auch ich bin in so einem «Managed-Care-Modell» versichert. Dieses verpflichtet mich dazu, erst den Hausarzt zu konsultieren, bevor ich beim teuren Spezialisten reinschaue. Ich lebe gut damit. Auch in diesem Modell wurde ich von Uni-Professoren behandelt, als das nötig war.

Die Prämien steigen vor allem, weil wir älter werden und immer mehr zum Arzt gehen.

Nur, da beginnt schon die Sache mit dem Zwang: Als vor ein paar Jahren der Vorschlag im Raum stand, Managed Care zum Standard für alle zu machen, scheiterte das am Stimmvolk. Einschränkungen des Leistungskatalogs haben es meist schwer. Selbst homöopathische Präparate ohne Wirkstoff haben viel Rückhalt. Nach wie vor werden sie von der obligatorischen Krankenversicherung bezahlt.

Das Prämienwachstum kommt ja nicht von nirgends. Die Prämien steigen weder wegen steigenden Medikamentenpreisen noch wegen der Verwaltungskosten der Krankenkassen. Sie steigen vor allem, weil wir älter werden und immer öfter – auch in jungen Jahren – zum Arzt gehen. Und weil es in diesem Land noch immer zu viele zu kleine Spitäler gibt.

Von mir aus könnte man Spital-Listen und Leistungskataloge stark ausmisten. Doch die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sieht das anders. Es wurden schon Regierungsrätinnen abgewählt, weil sie das Wort «Rationierung» in den Mund nahmen. Oder weil sie Regionalspitäler geschlossen hatten.

Und damit zurück zu Gesundheitsdirektorin Rickli. Wenn es etwas gibt, was man auf keinen Fall ändern sollte, dann ist es das Obligatorium für eine Versicherung, die alles abdeckt, was medizinisch notwendig ist. Wer die Situation in den USA kennt, weiss, wie viel ein solches Obligatorium wert ist. Niemand sollte um medizinische Leistungen betteln oder sich dafür verschulden müssen. Auch die Würde der Menschen ist eine liberale Idee.

Ebenso schwierig wird es, wenn die Leistungen im Obligatorium so stark beschnitten werden, dass faktisch eine Zweiklassenmedizin entsteht wie in Grossbritannien. Dort warten Patienten oft lange auf Untersuchungen, wenn sie nicht privat versichert sind. Manche überstehen dabei die Warterei nicht.

Wollen wir wirklich Schlagzeilen über Menschen, die sterben, weil sie zu spät zum Arzt gehen – aus Angst vor der Rechnung? Nein. Das Obligatorium wurde aus gutem Grund eingeführt. Denn dahinter steht nicht zuletzt auch ein versicherungstechnischer Gedanke: Jede Versicherung lebt von Solidarität. Nicht nur von der Solidarität zwischen Reich und Arm, sondern auch von der Solidarität zwischen Krank und Gesund. Einem Unterschied, den wir schlecht beeinflussen können. Vor allem dann, wenn es richtig teuer wird.

Gegen Krankheiten versichert zu sein ist kein Nice-to-Have, wie die Deppen-Police für Mobiltelefon-Schäden

 

Denn was würde in Ricklis Welt passieren? Personen, die seltener zum Arzt müssen – statistisch gesehen: junge Männer –, und solche, die sich aufgrund ihres Vermögens gelegentliche, teure Rechnungen leisten können, würden sich wohl aus der Krankenversicherung zurückziehen. Die verbleibenden Versicherten hätten dann die Kosten von Alten und chronisch Kranken zu tragen. Gleichzeitig müsste sich die Sozialhilfe wohl mit Fällen beschäftigen müssen, bei denen Spitalrechnungen nicht bezahlt werden können. Oder das Konkursgericht.

Gegen Krankheiten versichert zu sein, ist kein Nice-to-Have, wie die Deppen-Police für Mobiltelefon-Schäden oder die Gepäckversicherung für die Asienreise. Gegen Krankheiten versichert zu sein, ist gerade für die essenziell, die es sich nicht leisten können, dieses Risiko mit ihrem Vermögen abzufedern.