Wir wissen wenig über die Zukunft. Das wenige Wissen, das wir haben, ist sehr mächtig. Wir geben uns unheimlich viel Mühe, das wenige Wissen nicht wahrhaben zu wollen.» Das waren meine drei wichtigsten Lehren aus zwölf Jahren als Chefökonom einer Grossbank. Vor einigen Jahren habe ich in dem Buch «Plädoyer für eine bescheidenere Ökonomie» versucht, zu zeigen, was das für mein Fach bedeutet. Corona lässt erahnen, dass das auch ein Thema für andere Wissenschaften sein könnte. Auch für Virologen scheint zu gelten: Wir wissen wenig – das ist dafür aber umso mächtiger. Und irgendwie wollen wir alle das wenige Wissen nicht wirklich ernst nehmen. Bestes Beispiel: die dritte Welle.
Das ist eine Welle mit Ansage. Niemand, der sich mit der Materie befasst, kann überrascht sein, dass jetzt die Fallzahlen wieder deutlich steigen. Vor Wochen haben uns die Virologen glaubhaft versichert, dass die mutierten Varianten eine höhere Ansteckungsrate als das alte Virus haben. Die bisherigen Massnahmen haben gereicht, um die Lage mit dem alten Virus in den Griff zu bekommen. Dass dann bei unveränderten Massnahmen wieder mehr Fälle entstehen, scheint gelinde gesagt sehr nachvollziehbar.
Die öffentliche Debatte um unerreichbare Lockerungen war fahrlässig
Statt das ernst zu nehmen, hat sich unsere Gesellschaft in Lockerungsdebatten verloren. Damit wir uns recht verstehen: Diskussionen über Staatseingriffe sind in einer Demokratie unabdingbar. Aber deswegen über Inzidenzwerte zu spekulieren, die in näherer Zukunft unerreichbar waren, war zumindest fahrlässig.
Warum wollen wir das wenige mächtige Wissen, das wir besitzen, nicht wahrhaben? Weil Wahrheiten oftmals unangenehm sind. Beispiel gefällig? Nur wenige Menschen mit Übergewicht stehen gerne auf die Waage. Oder aus meinem Fach: Welcher Politiker respektiert, dass Staatsverschuldung langfristig negative Effekte hat?
Gleichzeitig können wir mit Unsicherheit nicht gut umgehen. Wie oft schauen Sie auf den Wetterbericht? Und wie selten spielen die Prognosen für Ihr Handeln wirklich eine Rolle? Das müsste eigentlich dafürsprechen, dass wir das wenige verlässliche Wissen, das wir besitzen, wirklich ernst nehmen. Tut es seltsamerweise aber nicht, weil unser Bedürfnis nach Sicherheit auch dazu führt, dass wir von unseren Expertinnen und Experten ständig Aussagen über die Zukunft verlangen, die man eigentlich gar nicht machen kann.
Unhaltbare Prognosen führen zu Skepsis gegenüber der Wissenschaft
Und hier kommen die Anbieter von Expertenwissen ins Spiel. In meinem Metier gibt es immer noch reihenweise Kollegen, die Prognosen machen, die man gar nicht machen kann. Beispiel? Wachstumsprognosen fürs kommende Jahr. Die lagen gerade spektakulär daneben und werden dennoch weiter publiziert, als wäre nichts geschehen. Dass unhaltbare Prognosen letztlich zu Enttäuschung bei den Empfängern der Botschaft und zur Skepsis gegenüber der Wissenschaft führen, ist nur zu verständlich. In der Kakofonie der vermeintlichen Expertenstimmen geht das wenige Wissen, das wir wirklich für unser Handeln nutzen können, einfach unter. Könnte das bei den Virologen ähnlich sein?
Bescheidenheit bezüglich der eigenen Fähigkeiten, die Zukunft zu kennen, und Hartnäckigkeit bezüglich der Aussagen über das wenige Wissen, das wirklich erhärtet ist, sind angesagt. Übrigens: Die Aussage «Wir wissen nicht, was passieren wird» führt keinesfalls dazu, dass alles an Handlungen erlaubt ist. Im Gegenteil: Das Wissen um unser Unwissen führt dazu, dass viele Pseudomassnahmen nicht mehr statthaft sind.
Klaus Wellershoff ist ein deutscher Ökonom und leitet das Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners.