Die Schweizer Bevölkerung ist den Pflegenden für deren Einsatz in der Pandemie dankbar. Gleichzeitig stellt sie fest, dass ihr Gesundheitswesen an fehlendem Pflegepersonal und dadurch deutlich erschwerten Arbeitsbedingungen leidet. Von 2012 bis 2019 hat das Pflege- und Betreuungspersonal zwar von 156'000 auf 186'000 um 19 Prozent zugenommen.
Doch diese grosse Leistung der Gesundheitsbranche reicht nicht aus. Bis 2029 wird der Nachwuchs in der Diplompflege nur 67 Prozent des prognostizierten Bedarfs decken können. In diesem schwierigen Umfeld trifft die Pflegeinitiative den Nerv der Zeit. Nach der Einreichung reagierte das Parlament für schweizerische Verhältnisse aussergewöhnlich rasch und grosszügig. Der im Frühjahr 2021 fast einstimmig verabschiedete indirekte Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative nimmt zwei zentrale Anliegen der Pflegeinitiative auf.
Valentin Vogt ist der Präsident der Schweizerischen Arbeitgeberverbandes.
Er enthält zum einen eine Ausbildungsoffensive für die nächsten acht Jahre im Wert von rund einer Milliarde Franken und zum andern eine Kompetenzerweiterung des Pflegepersonals, das in Zukunft bestimmte Leistungen ohne Anordnung eines Arztes abrechnen darf.
Das Parlament wies Forderungen richtigerweise zurück
Diese historische Aufwertung des Pflegeberufs können die Initianten als grossen Erfolg ist verbuchen. Zurecht ging das Parlament hingegen auf Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer «angemessenen Abgeltung» der Pflegeleistungen nicht ein. Diese Anliegen aufzunehmen ist eindeutig Aufgabe der Kantone und der Sozialpartner. Angesichts dieses Erfolgs sorgte die Entscheidung der Initianten, die Initiative nicht zurückzuziehen, für einige Überraschung – und Unverständnis. Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass die Umsetzung der Initiative jemals zu einem besseren Ergebnis als dem indirekten Gegenvorschlag führen wird.
Das von den Initianten ins Feld geführte Argument, die Ausbildungsoffensive sei eine Badewanne ohne Stöpsel, weil die Arbeitsbedingungen nicht verbessert würden, greift ins Leere. Bei Lichte betrachtet können die Institutionen des Gesundheitswesens die Arbeitsbedingungen nur mit mehr Personal verbessern. Und genau hier setzt der indirekte Gegenvorschlag an, denn dank diesem können sofort mehr Pflegefachpersonen ausgebildet werden.
Die wahren Absichten der Initianten offenbarten sich während des Abstimmungskampfes. So preschte der VPOD mit gewerkschaftlichen Forderungen vor und verlangte eine Lohnerhöhung von 10 Prozent, die 36-Stunden-Woche und eine Pensionierung mit 60 Jahren für Angestellte in der Pflege. Es ist nun offensichtlich, dass die Gewerkschaften die Initiative als trojanisches Pferd benützen wollen, um im Gesundheitswesen Fuss zu fassen. Dass sich der SBK von diesen Forderungen halbherzig distanzierte, wird nichts daran ändern.
Klassenkämpferische Manier
Wie aus Stellungnahmen in den Medien unverhohlen zu entnehmen ist, soll das Ja zur Pflegeinitiative der Anfang sein, das Schweizer Gesundheitswesen umzukrempeln. Dazu brauche es zusätzlich weitere gewerkschaftliche Kämpfe und eine radikale Reform der Gesundheitspolitik. So sollen etwa die Fallpauschalen, die 2012 mit der neuen Spitalfinanzierung eingeführt wurden, rückgängig gemacht werden. Ein Gewerkschaftler liess sich sogar in klassenkämpferischer Manier zitieren, die Gewerkschaften müssten in der Lage sein, ganze Spital-Abteilungen lahmzulegen. Dies sei gerade auch nach einem Ja zur Pflegeinitiative am 28. November wichtig.
Es wirkt fast etwas tragisch, dass die bürgerlichen Politiker – mit Ausnahme weniger Aufrechten - diese Entwicklung nicht kommen sahen und im Abstimmungskampf durch Abwesenheit glänzten. Demgegenüber setzten sich die Arbeitgeberverbände H+ Die Spitäler der Schweiz, Senesuisse und Spitex privé (ASPS) mit viel Herz für den indirekten Gegenvorschlag ein. Ob dieses Engagement am 28. November 2021 reichen wird, die Pflegeinitiative abzulehnen, ist ungewiss. Deshalb erneuern die Arbeitgeber nochmals ihren Aufruf: Wer die Pflege jetzt stärken will, ist für den Gegenvorschlag und stimmt NEIN zur Pflegeinitiative!