Im März dieses Jahres schickte Ian Bremmer eine Notiz an seine Kunden. Donald Trump lege seiner Aussenpolitik – Zölle für China, weniger Nato-Ausgaben, den Islamischen Staat bombardieren – die Idee «America First» zugrunde. Als die «New York Times» den Präsidentschaftskandidaten in einem Interview darauf ansprach, sagte dieser: «Ich mag den Ausdruck.» So wurde der Politikanalyst unfreiwillig zum Autor eines Mottos im Wahlkampf von Donald Trump. Die «Handelszeitung» hat Bremmer kurz nach den Wahlen in seinem Büro an der Fifth Avenue in New York getroffen.

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Welchen Titel würden Sie einem Film über die US-Wahlen 2016 geben?
Ian Bremmer*: «Titanic» vielleicht? (lacht) Oder: «Das Ende der Pax Americana». Das wäre dann ein geeigneter Buchtitel. Wenn Historiker in 20 Jahren zurückblicken, werden sie sagen: Mit der Wahl von Donald Trump ging das Kapitel der von den USA angeführten, internationalen Sicherheitsordnung zu Ende. That’s it!

Noch haben die USA das grösste Militär.
Aber sie sind nicht mehr der Anführer der freien Welt. Amerika war im 20. Jahrhundert ein Leuchtturm. Der Kommunismus ist implodiert, weil Millionen Osteuropäer nach Amerika blickten und sagten: Wir wollen dieses System auch. Das Image der Vereinigten Staaten hat in den letzten Jahren bereits gelitten. Trumps Wahl hat es nun total ruiniert.

Amerika ist also keine Supermacht mehr.
Amerika hat sich selbst von diesem Thron gestossen. Es hat der Welt mit dem diesjährigen Wahlkampf ein Schauspiel geboten, das an Negativität nicht zu überbieten war. Ein Schauspiel, das in der Wahl des untauglichsten Individuums, das in den USA je für den Präsidentenjob nominiert worden ist, gipfelte. Die USA haben mit dieser demokratischen Selbstzersetzung ihre Fähigkeit verloren, freiheitliche Werte zu propagieren. Die Freiheitsstatue ist jetzt ein Witz. Man kann unter Trump unmöglich stolz darauf sein. Wahrscheinlich wird sie bald mit Graffiti vollgesprayt sein.

Ist es so schlimm, wenn sich die USA nun in die Isolation zurückziehen?
Trump ist kein Isolationist, sondern ein Interventionist. Er wird Drohnen einsetzen, die Justiz nutzen und Banken einspannen, um Interessen unilateral durchzusetzen. Trump geht es nicht um Rückzug, sondern um «America first».


Die Wähler verbanden damit die Hoffnung, dass Trump Probleme wie die Korruption im eigenen Land angeht.
Trump hat nicht einmal seine Steuererklärung veröffentlicht! Wie soll er unter diesen Vorzeichen die Transparenz in der Politik verbessern? Seine Amtszeit wird eine einzige Aneinanderreihung von Skandalen – das ist garantiert. Seine Kinder sollen nun die Firma in einem sogenannten Blind Trust leiten und dabei nichts von den anstehenden Entscheidungen des Präsidenten erfahren. Wirklich? Solche Geschichten glaubt doch kein Mensch.

Taugen seine Wirtschaftspläne etwas?
Trump will der weissen, vom Abstieg bedrohten Mittelschicht helfen. Die vorgesehenen höheren Staatsausgaben könnten diesem Ziel tatsächlich förderlich sein. Angesichts des Tiefzinsumfelds muss man sich wegen der Defizite, die dies mit sich bringt, nicht allzu viele Sorgen machen. Es ist richtig, jetzt in die Infrastruktur und die Bildung zu investieren. Die grossen Risiken einer Präsidentschaft von Trump liegen aber nicht in der Innenpolitik, sondern auf der internationalen Ebene.

Warum?
Wenn die USA den Status als Supermacht verlieren, ist auch der Dollar als globale Reservewährung in Gefahr. Verstehen Sie mich richtig: Es geht nicht darum, dass Amerika den Weltpolizisten spielt. Es geht um die Fähigkeit, mit gutem Beispiel voranzugehen. Amerika muss als «too big to fail» gelten. Hier liegt die grosse Gefahr. Was, wenn die arabischen Länder nicht mehr in den USA investieren? Was, wenn die Chinesen mit ihren riesigen Beständen an amerikanischen Staatsanleihen den USA nicht mehr vertrauen? Es geht um Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit. Der Dollar ist bloss ein Stück Papier.

Ist der Niedergang der USA unaufhaltbar?
Als ich mein Buch über die US-Aussenpolitik schrieb (siehe Box), war ich erst nicht sicher, welchen Kurs ich dem Land empfehlen soll. Gefühlsmässig war das Konzept von den «unverzichtbaren USA» richtig – also einer Fortführung der Pax Americana. Am Schluss entschied ich mich aber für die Option des «unabhängigen Amerika». Dieses Amerika führt die Welt nicht durch Militärpräsenz, sondern durch innere Stärke an. Nach der Wahl von Trump ist 100-prozentig klar, dass dieser Weg der einzig gangbare ist.

Führen durch innere Stärke, mit gutem Beispiel: Kann das unter Trump gelingen?
Hier liegt das Problem. Trump muss die Wirtschaft wieder in Fahrt bringen. Das ist die einzige Hoffnung. Wenn er das schafft und es gleichzeitig fertigbringt, keine ideologischen Idioten in seine Regierung zu ernennen, um eine Art zweiten McCarthyismus heraufzubeschwören, kann das Experiment gelingen. Weiss Trump das? Wir werden es sehr bald herausfinden.


«Global kann niemand in die Fussstapfen der USA treten. Deshalb nenne ich die aktuelle Situation auch G-Zero»: Ian Bremmer und «Handelszeitung»-Redaktor Simon Schmid.

Was bleibt von Barack Obama?
Seine Hinterlassenschaft ist jetzt erledigt. Vernichtet! Das ist traurig für einen Präsidenten, der zum Schluss sehr populär war. Entsprechend ist sich die Stimmung in Washington momentan: Wie nach einem unerwarteten Todesfall in der Familie.

Obama wollte den Draht zu Asien stärken.
Der Plan war, das TPP-Abkommen als Hebel einzusetzen, um Asien näher an die USA zu binden. Dieser «Schwenk nach Asien» ist nun gestorben. Schade! Die Bedenken wegen TPP sind übertrieben. Es stimmt schon, dass Jobs wegen des Handels verlagert wurden. Aber das war früher. Heute ist es die Technologie, die Jobs vernichtet. Wenn Trump glaubt, dass er mit einem Mauerbau den technologischen Fortschritt aufhalten kann, ist er verrückt.

Wird China nun seine Macht ausdehnen?
Global kann niemand in die Fussstapfen der USA treten. Deshalb nenne ich die aktuelle Situation auch G-Zero, in Anlehnung an Organisationen wie die G-8 oder G-20. Der Punkt ist, dass es auf der Welt keine klare Führungsstruktur gibt. Weder ein einzelnes Land wie die USA noch die diversen Länderverbände geben eine solche Struktur vor. Regional kommt es in diesem Umfeld zu Neuausrichtungen. Länder wie die Philippinen sagen sich: Es sind jetzt die Chinesen, die Schecks unterschreiben, Infrastrukturen bauen, Handelsstrassen errichten. Global wird China aber weder militärisch noch technologisch, diplomatisch oder mit «Soft Power» den Rang erreichen, den die USA bislang hatten. Chinas Armee ist winzig. China ist ein Schwellenland, das Energie und Nahrungsmittel importieren muss.

Soll sich die Schweiz für China öffnen?
Für Länder wie die Schweiz ist es vorteilhaft, Investitionen aus China anzunehmen. Allein schon deshalb, weil China so gross ist. Kritisch ist es in Bereichen, wo die nationale Sicherheit auf dem Spiel steht oder sensible Informationen betroffen sind. Das sind aber Ausnahmen. Chinas Integration in die Weltwirtschaft ist generell eine nützliche Sache. Die WTO hat das Land nicht umsonst aufgenommen. Jetzt gibt es Regeln, man kann China auch vor Gericht ziehen. China hätte als Fernziel auch dem TPP-Abkommen beitreten sollen. Man wollte den Chinesen damit einen Anreiz zu geben, die Standards im eigenen Land zu verbessern. Im globalen Handel sollten alle Länder und Firmen nach denselben Regeln spielen.

Fällt nun alles zusammen, was der Westen seit dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hat?
Die USA werden Trump überleben. Auch die EU wird nicht auseinanderfallen. Aber in einem zentralen Punkt ist Europa gescheitert: Man hat es nicht geschafft, eine supranationale Identität und eine Idee von Rechtsstaatlichkeit zu schaffen, die über Kerneuropa hinausstrahlt. Länder wie die Türkei wenden sich heute von Europa ab. Erdogan strebt nicht nach Rechtsstaatlichkeit, sondern eifert dem Putinismus nach.

Gibt es einen tieferen Grund dafür?
Nach dem Kommunismus sprachen Leute wie Francis Fukuyama vom «Ende der Geschichte». Es war das Zeitalter der G-1, der Pax Americana. Das Modell der liberalen Marktwirtschaft schien sich durchgesetzt zu haben. In diesem Szenario hätte Europa expandieren können, direkt bis nach Russland und in den Nahen Osten. Mit der Zeit hätten sich die aufstrebenden Länder auf natürliche Weise ins System integriert. Doch es kam anders. Russland und der Nahe Osten näherten sich nicht dem Westen an. China vollzieht seinen Aufstieg unter komplett anderen Vorzeichen. Es herrscht nicht G-1, sondern G-Zero. Diese Entwicklung ist der Grund, warum das europäische Projekt ins Stocken geraten ist.

Formiert sich mit Donald Trump und Wladimir Putin nun eine neue Achse?
Es gibt Parallelen. Putin führt Russland als Diktator. Das System ist komplett auf ihn ausgerichtet. Wenn er eine Bemerkung über eine Firma fallen lässt, spuren die Verantwortlichen sofort. Sonst müssen sie dran glauben. Trump bewundert diese Methoden. Seine Persönlichkeit trägt autoritäre Züge. Wenn er über Medien spricht oder über unliebsame Firmen wie Amazon, dessen Eigner Jeff Bezos auch die kritische «Washington Post» besitzt, erinnert dies stark an Putin. Die sogenannten Checks and Balances der amerikanischen Politik liegen Trump nicht am Herzen.

Gibt es auch Unterschiede?
Putin ist viel selbstsicherer. Er steht dort, wo er glaubt, hinzugehören. Trump nicht. Er hat ein verletzliches Ego. Er kommt nur aus Queens, einem Vorort von New York. Sein Vater trichterte ihm ein, auf der Welt gebe es nur Gewinner und Verlierer. Daher kommt Trumps ständiger Drang, der Welt etwas zu beweisen. Putin liebt Hunde. Er mag Wodka. Trump kann Hunde nicht ausstehen und trinkt keinen Alkohol. Putin ist ein ziemlich religiöser Typ. Er glaubt, dass die orthodoxe Kirche eine Bedeutung hat für das Land. Trump ist die Religion komplett egal. Die Bibel bedeutet ihm nichts. Menschlich haben Trump und Putin also rein gar nichts gemeinsam.

Werden sie trotzdem zusammenspannen?
Die beiden Männer werden sich auf einer oberflächlichen Ebene nützlich finden. Wahrscheinlich wird sich die Beziehung sogar grossartig entwickeln! Trump steht bei der Russlandpolitik auch bereits als Gewinner fest. Obama sagte: Baschar al-Assad muss in Syrien weg; die Krim gehört zur Ukraine. Doch Putin widersetzte sich. Trump kann sich nun als Realpolitiker profilieren. Zusammen mit Russland kann er den Islamischen Staat bekämpfen, ohne Energie auf Assad zu verschwenden.

Die Rebellen lässt er im Regen stehen?
Absolut. Genau so wie die Ukraine. Natürlich hat auch Obama in diese Konflikte nur halbherzig eingegriffen. Doch bei Trump ist es viel offensichtlicher. Werte wie Demokratie oder Menschenrechte interessieren ihn nicht. Das nützt Putin.

Was zählt für Trump überhaupt?
Er betrachtet die Welt unter einem transaktionalen Aspekt. Das betrifft internationale Allianzen genauso wie geschäftliche oder private Beziehungen. Kriegen wir etwas voneinander? Wenn ja, dann kommen wir ins Geschäft. Trump sagt sich: «Was in Amerika passiert, ist mein Geschäft. Wenn ihr Journalisten umbringt, ist das euer Geschäft. Es geht mich nichts an.» Er schliesst heute einen Deal mit diesem und morgen mit jenem Land ab.

Wie weit bringt einen diese Strategie?
Sie kann in der Geschäftswelt funktionieren und auch im Privatleben. Melania und Donald Trump wissen genau, was sie aneinander haben. Die künftige First Lady wurde einmal gefragt, ob sie nur wegen des Geldes mit Trump zusammen sei. Sie antwortete: «Glauben Sie, dass Donald mit mir zusammen wäre, wenn ich nicht gut aussehen würde?» Das Problem ist, dass internationale Beziehungen nicht nach diesem Muster funktionieren. Amerika und Grossbritannien entwickelten keine «Special Relationship», weil beide Seiten darin einen guten Deal sahen. Die Beziehung gründete auf Vertrauen und auf geteilten Werten. Dasselbe gilt auch in Bezug auf  Europa, Kanada, Mexiko, Japan, Südkorea. Das Vertrauensverhältnis zu diesen Ländern wird unter Trump strapaziert.


«Le Pen wird mehr Support haben als jemals zuvor.»: Ian Bremmer.

Wie soll Angela Merkel darauf reagieren?
Ihre unmittelbare Reaktion war stark: Wir arbeiten zusammen, aber nur unter der Bedingung, dass Trump liberale Werte achtet. Ich habe eine grosse Achtung vor ihr. Jetzt muss sie aber erst einmal selbst die nächsten Wahlen gewinnen. Das wird nicht einfach. Seit der Flüchtlingskrise schlägt ihr Gegenwind entgegen. Ihre Autorität hat europaweit gelitten. Länder wie Polen oder Ungarn wenden sich zunehmend von der liberalen Demokratie ab. Merkel war beim «Time Magazine» zuletzt unsere Person des Jahres. Es war wohl die letzte Chance, ihr den Titel zu verleihen.

Kippen Europas Kernländer nach rechts?
Das Risiko ist real. Trump gibt dem Rechtspopulismus Auftrieb. «Breitbart», ein amerikanisches Webportal der alternativen Rechten, will nun nach Frankreich expandieren. Trump wird sich zweifellos mit Marine Le Pen treffen. Geert Wilders hat in den Niederlanden bereits auf seine Webseite geschrieben: «Make the Netherlands Great Again.» Nigel Farage hat in den USA selbst Kampagnenarbeit für Trump geleistet. Trump wird mit Sicherheit versuchen, Einfluss auf die Wahlen in Deutschland und Frankreich zu nehmen.

Wird ihm das gelingen?
Deutschland ist weniger anfällig. Es ist allergisch auf Aussenstehende, die dem Land Tipps geben wollen. Zudem läuft die deutsche Wirtschaft sehr gut und das Sicherheitsnetz ist besser ausgebaut als in Amerika. Die AfD kann zur mächtigsten Oppositionspartei aufsteigen. Aber an die Macht schafft sie es nicht. Dieses Szenario gehört ins Reich der Phantasien.

Wie sieht es in Frankreich aus?
Viele Beobachter glauben: Marine Le Pen gewinnt die erste Runde der Präsidentschwaftswahlen, aber in der zweiten Runde hat sie keine Chance, weil die anderen Parteien zusammenarbeiten. Mag sein. Aber Le Pen hat jetzt Rückenwind. Viele Franzosen halten die aktuellen Politiker für Versager. Die Zustimmung für François Hollande ist auf einem Rekordtief. Die Alternativen sind Alain Juppé, ein gesichtsloser Zentrist, und der skandalbehaftete Nicolas Sarkozy, der schon einmal aus dem Amt gejagt wurde. Le Pen wird 2017 mehr Support haben als jemals zuvor.

Gemessen an diesen Aussichten ist die Bilanz von Europas Mitteparteien, die lange regiert haben, eigentlich katastrophal.
Korrekt.

Befinden wir uns in einem globalen Krieg der politischen Kulturen?
Man muss realistisch bleiben. In den USA haben weniger Menschen für Donald Trump gestimmt als vor vier Jahren für Mitt Romney. Trump hat gewonnen, weil noch viel weniger Leute Hillary Clinton gewählt haben. Das Volk war apathisch. Die Zahl echter Rassisten ist nicht so gross. Die Botschaft war: Washington ödet uns an. Wir bleiben zu Hause. We don’t care.

Kann das Pendel auch wieder in die andere Richtung schwingen?
Natürlich. Dieselben «bedauernswerten» Leute, die jetzt für Trump gestimmt haben, wählten vor vier Jahren einen linken, schwarzen Präsidenten. Warum sollten sie dies in vier Jahren nicht noch einmal tun?

* Ian Bremmer ist Politikwissenschaftler und Gründer der Beratungsfirma Eurasia Group. Vor vier Jahren erschien «Every Nation for Itself», eine Analyse zur internationalen Ordnung im 21. Jahrhundert. Sein neues Buch, «Superpower», lotet die Alternativen für eine künftige Aussenpolitik der USA aus. Bremmer lebt in New York.