Trotz schwierigem Investitionsklima galt die Ukraine lange als Zukunftsmarkt. Das zweitgrösste Land Europas lockte mit seiner Lage zwischen der EU und Russland und einem Markt von 45 Millionen Einwohnern. Auch Schweizer Firmen sind seit einigen Jahren präsent.
So unterhält beispielsweise Nestlé drei Produktionsstandorte in der Ukraine. Ende 2012 betrugen die schweizerischen Direktinvestitionen (FDI) 1,1 Milliarden Dollar. Schweizer Firmen schufen in der Ukraine rund 31'000 Stellen. Mit der Eskalation der Gewalt wir die Lage für die Unternehmen noch schwieriger, sagt Ukraine-Experte Michael Derrer* von Ascent Swiss Business Management AG.
Was bedeutet die Eskalation der Gewalt für die ukrainische Wirtschaft?
Michael Derrer: Das öffentliche Leben in Kiew ist in weiten Teilen lahmgelegt. Zudem darf man nicht vergessen, dass es auch in der Westukraine heftige Auseinandersetzungen gibt. Wenn man bedenkt, dass das Land seit 2009 in einer Wirtschaftskrise steckt, ist die Lage recht desolat.
Und wie trifft das ausländische Firmen in der Ukraine?
Die Produktion steht zwar nicht still. Doch die Bedingungen sind stark erschwert. Es gibt Blockaden, die Transportwege sind teilweise unterbunden, weil die Regierung versucht den Zufluss an Protestierenden nach Kiew zu stoppen. Zudem gibt es bereits Schwierigkeiten mit dem Zahlungsverkehr, und die lokale Währung wertet ab.
Warum investieren Schweizer Firmen überhaupt in der Ukraine und was sind die Probleme?
Firmen konnten zum Beispiel in der Westukraine von tiefen Lohnkosten profitieren. Andererseits handelt es sich bei der Ukraine um einen grossen Binnenmarkt, und die Kaufkraft wuchs während Jahren kontinuierlich - wenn auch ungleichmässig verteilt.
Auf der anderen Seite ist die Korruption endemisch, und die Rechtssicherheit ist nicht immer gewährleistet.
Wie hat die Korruption konkret ausgesehen?
Es erwarten halt alle, dass geschmiert wird. Es gab aber auch Unternehmen die sich an uns gewendet haben, die mit sehr schwierigen Situationen konfrontiert waren. Vor allem kleine Firmen können von lokalen Behörden drangsaliert werden. Es gab zum Beispiel Fälle, in denen einheimische Betriebsleiter mit korrupten Beamten unter einer Decke steckten, um dem Besitzer den Betrieb abzunehmen.
Sind durch die Proteste seit Ende November die politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften der letzten Jahre zunichte gemacht worden?
Das hat leider schon vorher begonnen. Die Revolutionäre von 2004 sind selber Schuld, dass sie nicht an der Macht bleiben konnten - einerseits haben sie damals zu blumige Versprechungen gemacht, was beispielsweise den Kampf mit der Korruption anbelangt. Andererseits gab es ständig Streit innerhalb der «orangen» Bewegung. Wiktor Janukowitsch war dann der lachende Dritte des Machtkampfs zwischen dem damaligen Präsident Wiktor Juschtschenko und Premierministerin Julija Timoschenko. Präsident Janukowitsch hat es aber während seiner Präsidentschaft mit der persönlichen Bereicherung seiner Familie auf die Spitze getrieben. Sein Klan hat das Land richtiggehend ausgesogen.
Wie hat sich die orange Revolution von 2004 aufs Investitionsklima ausgewirkt?
Positiv war sicher, dass Regierungswechsel nach westlich-demokratischen Spielregeln möglich wurden. Das demokratische Element wurde von den westlichen Investoren als Standortvorteil gegenüber Russland oder Weissrussland gewertet.
Welchen Ausgang erwarten Sie nun, werden sich die EU-freundlichen Kräfte durchsetzen, oder die Freunde Russlands?
Zuerst möchte ich festhalten, dass der Konflikt in den westlichen Medien zu stark vereinfacht als Unterdrückung des europafreundlichen Volkes durch die Regierung, die den Interessen des Kreml dient, dargestellt wird. Dabei geht oft vergessen, dass es in den Reihen der Opposition rechtsextremistische und gewaltbereite Kräfte gibt. Das Volk steht nicht einfach nur hinter der Opposition, sondern wünscht sich auch Ruhe und Ordnung. Doch das Land ist gespalten: der Osten und Süden steht hinter Janukowitsch, der Westen unterstützt die Maidanbewegung.
Wird die Ukraine zerbrechen?
Das weiss zum jetzigen Zeitpunkt niemand. Wenn die geografischen Grenzen der zwei Lager völlig klar wären, könnte das Land im Prinzip friedlich geteilt werden wie damals die Tschechoslowakei. Es gibt aber eine grosse Zentrumsregion inklusive der Hauptstadt Kiew, den beide Seiten beanspruchen würden. Für mich ist es schwer vorstellbar, dass die Ukraine nach den Ereignissen dieser Woche als zentralistisch regiertes Land bestehen bleibt. Die Gewalt verändert die Menschen, und eine Versöhnung zwischen den Landesteilen rückt in immer weitere Ferne.
* Michael Derrer berät mit seiner Firma Ascent Swiss Business Management Schweizer Betriebe bei der Expansion nach Osteuropa. Sie betreibt in Kiew ein Büro mit sechs Angestellten in den Bereichen Recht, Betriebswirtschaft, Buchhaltung und Übersetzung. Der Politologe und Ökonom ist seit zwanzig Jahren in Osteuropa tätig und Ukraine-Kenner.