Erstens informieren die Regierungen von Bund, Kantonen und Gemeinden bei sehr vielen Abstimmungen falsch. So bezeichnen sie den Verkehr mit ÖV, Elektroautos und Velos oft als emissionsfrei. Dabei braucht mehr Elektroverkehr mehr Strom, sodass schlussendlich fossile Kraftwerke mehr produzieren müssen, und mehr Velofahren bedingt mehr Nahrungsverzehr mit riesigem fossilem Fussabdruck. Viel Falschinformation bieten die Regierungen auch zur Personenfreizügigkeit, zu den Bilateralen I, zu Covid, Klima, Regulierungen der Arbeits- und Wohnraummärkte, zu Budget- und Baukostenprognosen und so weiter. Es müssten also nicht einzelne, sondern fast alle Abstimmungen wiederholt werden, und das zumeist mehrmals. Entscheiden würden dann die Gerichte, welches Ergebnis gelten soll.  

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Zweitens beeinflussen die Falschinformationen der Regierungen nicht nur Volksabstimmungen, sondern zuallererst die Entscheidungen der Parlamente und der Regierungen selbst. Es müssten also auch viele Parlaments- und Regierungsentscheide mehrfach wiederholt werden.

Der Gastautor

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Fribourg und Forschungsdirektor von Crema – Center for Research in Economics, Management and the Arts.

Drittens ist doch gerade das Hauptargument für direkte Demokratie, dass alles so kompliziert, unklar und unsicher ist. Falls Regierungen und Parlamente wüssten, was wahr ist, könnte man sie selbst entscheiden lassen. Weil sie es aber nicht wissen, braucht es einen offenen, problemorientierten, kritischen, wettbewerblichen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs, wie er nur vor Volksabstimmungen entsteht. 

Viertens würde die Aufhebung von Volksentscheiden bei Falschinformation bewirken, dass noch viel mehr Falschinformation verbreitet würde. Denn dann könnten die Regierungen, Parteien und Lobbys ihnen nicht genehme Vorlagen bodigen, indem sie falsche Informationen verbreiten und diese nach verlorener Volksabstimmung als falsch brandmarken lassen, wonach dann Gerichte die Abstimmung annullieren.  

Fünftens gibt es einen Mechanismus, mit dem Gruppen, die sich durch Falschinformation betrogen fühlen, ganz ohne Gerichtsentscheid die Wiederholung von Volksabstimmungen einfordern können: Volksinitiativen. Je gravierender die Falschinformationen waren, desto einfacher wird die Unterschriftensammlung. 

Im Kampf um Wahrheit soll deshalb die direkte Demokratie nicht ausgehebelt, sondern gestärkt werden. Die falschen Behauptungen von Regierungen, Parteien und Lobbys müssen möglichst aufgedeckt werden. Dafür braucht es auf allen Staatsebenen unabhängige, vom Volk gewählte Kritik- und Gegenvorschlagskommissionen. Diese können Abstimmungsvorlagen und Parlamentsentscheide auf ihre Auswirkungen und Effektivität hin überprüfen, formell kritisieren und Gegenvorschläge zu Abstimmungsvorlagen zuhanden des Volkes formulieren. Die fünf bis sieben Mitglieder der Kritik- und Gegenvorschlagskommission sollten vom Volk mit dem Majorzverfahren in einem Einheitswahlkreis gewählt werden. Das garantiert, dass die Kommissionen parteilich breit zusammengesetzt sind und sich anders als die parlamentarische Opposition stets um die Gesamtinteressen kümmern, konstruktiv bleiben und eine bürgernahe Position vertreten.