Ehemalige Verdingkinder und andere Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen erhalten vom Bund einen Solidaritätsbeitrag von bis zu 25'000 Franken. Nach dem Nationalrat sprach sich auch der Ständerat für den Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative aus. Die kleine Kammer hiess die Gesetzesvorlage des Bundesrates am Donnerstag mit 36 zu 1 Stimme gut. Mit diesem indirekten Gegenvorschlag stehen für Zahlungen an die gemäss Schätzung des Bundes 12'000 bis 15'000 anspruchsberechtigten Opfer 300 Millionen Franken zur Verfügung.

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Justizministerin Simonetta Sommaruga erinnerte an ein dunkles Kapitel der Geschichte: Bis 1981 hätten Männer oder Frauen beispielsweise monatelang in Gefängnissen weggesperrt werden können, weil ihr Lebenswandel nicht genau dem Schema entsprochen habe. «Stellen Sie sich das einmal vor», sagte sie. Niemand habe für diese Menschen die Stimme erhoben. Sommaruga forderte, die historische Chance zu ergreifen: «Unsere Verantwortung ist es, dieses Unrecht zu anerkennen.»

Moralisches Signal

Ein Nichteintretensantrag von Werner Hösli (SVP/GL), der es bevorzugt hätte, das Volk über die Initiative abstimmen zu lassen, fand keine Unterstützer. Die Initiative wurde diskussionslos und einstimmig abgelehnt, und auch Höslis Fraktionskollegen stellten sich hinter den Gegenvorschlag.

Die Debatte im Rat war emotional. «Können wir das überhaupt wieder gutmachen«, fragte Peter Föhn (SVP/SZ) in die Runde und gab die Antwort gleich selbst: «Wohl kaum.» Das Parlament könne einzig ein moralisches Signal aussenden, verbunden mit einer minimalen Abgeltung.  Föhn dankte den Initianten für den Anstoss zum Gegenvorschlag und erhob dabei den Mahnfinger: Er hoffe und fordere, dass sich solche und ähnlich gelagerte Beispiele in der Schweiz nie mehr wiederholten. «Einer Mutter, einem Vater dürfen die Kinder nur im alleralleräussersten Notfall weggenommen werden.»

Armut, Elend, Behördenwillkür

Joachim Eder (FDP/ZG) erinnerte sich an Gespräche mit Opfern: Sie hätten von Armut und Elend berichtet, von Ungerechtigkeit, von Behördenwillkür. Gedenkanlässe, Soforthilfe und öffentliche Entschuldigungen reichten nicht aus, um Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Als Mitglied das Initiativkomitees sagte Eder, dass das Komitee den Gegenvorschlag unterstütze, obwohl die Initiative einen grösseren Fonds von 500 Millionen Franken vorsehe. «Das hohe Alter der Opfer verlangt eine rasche Lösung.» Übersteht der Gegenvorschlag die Schlussabstimmung, ziehen die Initianten ihr Begehren zurück. Viele der heute betagten Opfer seien nicht in der Lage, die an ihnen begangenen Straftaten nachzuweisen, hielt Stefan Engler (CVP/GR) fest. Deshalb habe der Bundesrat einen Kniff angewandt: Die Zahlungen des Bundes stellten weder einen Schadenersatz noch eine Genugtuung dar, sondern seien ein freiwilliger Solidaritätsbeitrag.

Anerkennung von Unrecht

Das Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981, wie sein ganzer Titel lautet, regelt mehr als Solidaritätsbeiträge: Es anerkennt, dass den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen Unrecht angetan worden ist, «das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat«»

Akten sollen aufbewahrt werden, und Betroffene sollen Einsicht erhalten in die Dokumente. Auch hat der Bundesrat für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der Zwangsmassnahmen zu sorgen, und die Kantone müssen für die Opfer Anlauf- und Beratungsstellen einrichten.

Stichjahr 1981

Das Gesetz gilt für Massnahmen, die vor 1981 vollzogen worden sind, sowie Massnahmen, die vor dem Stichjahr veranlasst, aber erst danach vollzogen worden sind. Als Opfer gilt, wer seelische und körperliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlitten hat oder für keinen oder einen schlechten Lohn arbeiten musste.

Opfer ist aber auch, wer sein Kind unter Zwang hat weggeben müssen, eine Abtreibung vornehmen oder sich hat sterilisieren lassen müssen. Und Opfer ist, wer in seiner körperlichen und sozialen Entwicklung gezielt behindert oder sozial stigmatisiert worden ist. Auch Versuche mit Medikamenten werden aufgeführt. Das Gesetz wird drei Monate nach dem Ende der Referendumsfrist in Kraft treten. Diese wird angesetzt, sobald die Initiative zurückgezogen ist. Laut Sommaruga können erste Zahlungen im günstigsten Fall 2017 erfolgen.

Soforthilfe für über 1000 Opfer

Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die in einer finanziellen Notlage waren, ist bereits aus einem vor zwei Jahren eingerichteten Soforthilfefonds geholfen worden.

Mehr als 1000 Personen bekamen einen Betrag zwischen 4000 und 12'000 Franken. Ausbezahlt wurden bis im vergangenen Juli 8,7 Millionen Franken. 340 Gesuche wurden abgelehnt, weil die Gesuchsteller keine Opfer waren, sich nicht in finanziellen Nöten befanden oder nicht genügend Informationen für die Beurteilung ihres Gesuches lieferten.

(sda/mbü/ama)