Das Abkommen der Schweiz mit der EU ist fertig ausgehandelt. Heute haben die Bundesräte Ignazio Cassis, Guy Parmelin und Beat Jans darüber berichtet. Damit wurde zwar ein wichtiger Meilenstein erreicht, von der Inkraftsetzung eines neuen Abkommens sind wir aber noch weit entfernt. Zuerst gilt es, das Erreichte in Rechtstexte zu giessen, darauf folgt in der Schweiz die Vernehmlassung und der übliche politische Prozess im Parlament und in der Öffentlichkeit.
Bis es zu einer Abstimmung dazu kommt, wird es wohl noch Jahre dauern. Auch bei der EU muss das Verhandlungsergebnis erst von den zuständigen Gremien abgesegnet werden. Doch jetzt wissen wir, was die Schweiz in den Verhandlungen herausholen konnte. Der Bundesrat ist laut den genannten Vertretern sehr zufrieden mit der Arbeit seiner Verhandlungsführer. Alle Ziele seien erreicht worden, hiess es da.
Den grossen Zusammenhang nicht aus den Augen verlieren
Die Bundesräte haben zu Recht auf den grösseren Zusammenhang der ganzen Übung hingewiesen. Da sind zum einen die wirtschaftlichen Abhängigkeiten: Die Schweiz ist sehr eng mit der EU verflochten – beim Handel, bei den Wertschöpfungsketten und bei der Personenfreizügigkeit.
Unsere Unternehmen sind auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen und sie tragen zu unserem Wohlstand bei. Und dann gibt es da den geopolitischen Kontext: Die Welt spaltet sich immer stärker in sich feindlich gesinnte Blöcke auf. Da ist es nicht ratsam, sich der Zusammenarbeit mit Europa zu verweigern; jenem Block, der uns historisch und wirtschaftlich am nächsten steht und für uns am wichtigsten ist.
Insgesamt bietet das Erreichte kaum mehr Überraschungen. Vieles ist schon im Vorfeld an die Öffentlichkeit gelangt. Die grösste Bedeutung im Gesamtpaket hat die Regelung der Zuwanderung, das wurde auch an der Pressekonferenz einmal mehr deutlich. Für die Schweiz wichtig ist hier, dass sie sich einem übermässigen, aus Schweizer Sicht schädlichen Zustrom entgegenstellen kann.
Schon im bestehenden Freizügigkeitsabkommen gibt es eine Schutzklausel. Doch neu soll sie die Schweiz bei schwerwiegenden Problemen selbst aktivieren können – aktuell kann sie das nur in Absprache mit der EU tun. Erst im Nachhinein würde nach der ausgehandelten Regel ein gemischter Ausschuss und allenfalls auch noch ein Schiedsgericht aus Vertretern der Schweiz und der EU die Anwendung der Schutzklausel beurteilen.
Die Details gilt es erst zu bestimmen
Welche Bedingungen genau die Einführung der Schutzklausel begründen, wird noch ausgearbeitet. Das gilt für viele andere Punkte der Einigung ebenfalls. In Bereichen, in denen die Schweiz sich mit ihren Anliegen nicht durchsetzen konnte, ist ein inländischer Ausgleichsmechanismus geplant. Das gilt etwa für die Spesenregelung.
Wie in der EU sollen bei Beschäftigten aus dem Ausland die Spesenregeln von deren Herkunftsland gelten, was potenziell dazu führen kann, dass zwar nicht die inländischen Löhne unterboten werden, aber deren Gesamtentschädigung. Inländische Ausgleichsmechanismen sollen diesen potenziellen Wettbewerbsnachteil für hiesige Beschäftigte ausgleichen.
Die Beispiele sind sinnbildlich auch für andere Bereiche der Übereinkunft. In den Details wurden wichtige Fortschritte erzielt, aber der Gesamtrahmen ist der gleiche geblieben. An der grundsätzlichen Personenfreizügigkeit ändert sich zum Beispiel nichts. Doch das war auch nicht anders zu erwarten.
Und da die Personenfreizügigkeit ohnehin besteht, hat vor allem Bedeutung, ob das Verhandlungsresultat besser ist, als die aktuelle Regelung. Das ist klar der Fall, da die Schweiz wie erwähnt anders als bisher gemäss Übereinkunft neu von sich aus Einschränkungen der Zuwanderung mit Verweis auf die Schutzklausel einführen könnte.
Die Gräben dürften bleiben
Dass die erzielte Einigung die Debatten in der Schweiz fundamental verändert, ist nicht zu erwarten. Wer auf kompletter Eigenständigkeit in der Rechtssetzung der Schweiz beharrt – bei der Zuwanderung, wie bei Regeln in anderen Bereichen des bilateralen Austauschs – wird mit dem Erreichten unzufrieden sein und es ablehnen. Mit einer solchen Haltung ist aber jeder Versuch, eine geregelte Übereinkunft zu finden, zum Scheitern verurteilt.
Zum einen kann die EU der Schweiz nicht mehr anbieten, als die eigenen Mitgliedsländer zu befolgen haben. Zum zweiten existiert eine komplette Unabhängigkeit in keiner Art von Beziehung. Beziehungen und erst recht Wirtschaftsbeziehungen basieren zur Vermeidung von Konflikten immer auf Grundregeln des gegenseitigen Verhaltens und Austauschs.
Mehr Realitätssinn gefragt
Zu wünschen ist deshalb, dass die sich nun intensivierende Debatte in der Schweiz an dieser Realität orientiert. Der Verweis auf die offensichtlichen Schwächen des EU-Gebildes hilft uns zum Beispiel wenig. Die perfekte Alternative steht leider nicht zur Verfügung. Ein alles oder nichts kann und wird es nicht geben.
Selbst wenn das ganze Paket am Ende scheitert, werden wir nicht einfach vollkommen unabhängig und ohne Regeln bleiben, denn an der wirtschaftlichen Verflechtung mit Europa ändert sich nichts. Es besteht aber die Gefahr, dass unsere Einflussmöglichkeiten dadurch zu unserem Schaden schwinden und schlechtere Regeln resultieren.
Umgekehrt heisst das nicht, dass wir uns aufopfern und den Kern unsere Institutionen aufgeben müssen, die auch für unseren wirtschaftlichen Erfolg mitverantwortlich sind – dazu gehört unser direktdemokratisches System verbunden mit dem Umstand, dass bei uns anders als bei der EU wesentliche Entscheide nicht nur demokratischer, sondern auch dezentraler und näher an den Betroffenen getroffen werden.
Das Verhandlungsergebnis zeugt davon, dass man dieses Anliegen bei der EU besser versteht und akzeptiert, als viele befürchtet haben. Insofern ist es auf jeden Fall ein Fortschritt. Jetzt gilt es, die konkreten Regelungen abzuwarten und mit offenem Visier die Debatte zu vertiefen.