Kurz vor Weihnachten brachte Reuters eine traurige Meldung: In Nigeria seien eine Million Covid-19-Impfdosen verdorben, bevor sie die Menschen erreicht hätten. Der Bericht der Nachrichtenagentur – veröffentlicht inmitten der ersten Omikron-Panikschübe – bestätigte wohl manch einen Politiker in der Idee, dass Europa seine Grenzen für Afrikaner erst mal schliessen sollte. Sicher ist sicher.
Ein genauerer Blick zeigt, dass die Sache sogar noch ärgerlicher war: Im November verfielen wohl weitaus mehr Impfungen in Nigeria – nämlich 2,464 Millionen Astrazeneca-Dosen aus Deutschland sowie 105’000 Dosen aus der Schweiz. Diese Zahlen vermeldet Ayoade Alakija, die Gesandte der WHO für die globale Verteilung von Covid-19-Hilfsmitteln. Das Problem dabei: Die Europäer hätten das Material völlig kurzfristig geliefert – im Fall der Schweiz kamen die Impfdosen nur Tage vor dem Verfalldatum in Abuja an.
«Wenn spätere Generationen diese Pandemie dereinst bewerten, dürften harsche Urteile fallen: kurzsichtig, irrational, nationalistisch, unsolidarisch.»
Zuvor hatte das BAG tatsächlich gut 400’000 Portionen für Nigeria, Ägypten, Pakistan, Sierra Leone und Indien freigegeben. Es waren Astrazeneca-Produkte, die der Bund gekauft und bezahlt hatte – die dann aber von der Arzneibehörde Swissmedic keine Zulassung erhielten; am 2. November 2021 zog Astrazeneca sein Gesuch für eine Schweizer Bewilligung vollends zurück.
Dass das helvetische Last-Minute-Almosen jetzt sogar als nigerianisches Fiasko dargestellt wurde, empfand man in Afrika als inakzeptabel. Zu Recht. Pandemiebekämpfer wie WHO-Chef Tedros Ghebreyesus und Ayoade Alakija prangern es seit Monaten an – sie sprechen schlicht von einem Skandal: Der reiche Norden impft alles, was er impfen kann, ganz gleich, wie gefährdet jemand ist. Seine Politiker fantasieren von Herdenimmunität und planen nach Booster Nummer eins bald Booster Nummer zwei. Dabei erfinden sie eifrig neue Definitionen von «vollständig geimpft» – eine Taktlosigkeit aus Sicht ärmerer Länder. Denn dort hat nicht einmal das exponierte Gesundheitspersonal eine Chance auf seine erste Impfdosis.
«Das ist empörend», kommentierte Alakija den Sanitäts-Nationalismus in einem BBC-Interview. «Solange nicht alle geimpft sind, ist keiner sicher.»
Denn wo tauchten bislang die Virusvarianten auf, die von der WHO als heikel eingestuft wurden? In Ländern wie Brasilien, Botswana, Indien, Kolumbien, Peru oder Südafrika. Das aber schert keinen hier: Als kritisch gelten Ungeimpfte höchstens, wenn sie zwischen Rorschach und Genf wohnen. Sogar nach der Erfahrung mit Omikron.
Der enge, nationale Schreibtisch-Moralismus, der unsere Covid-Debatten zudröhnt, steht in einem interessanten Widerspruch zum Zynismus der globalen Covid-19-Politik. Wenn spätere Generationen diese Pandemie dereinst bewerten, dürften harsche Urteile fallen – mit Begriffen wie irrational, kurzsichtig und unsolidarisch.