Was ist die grösste Bedrohung, der wir in den kommenden Jahren ausgesetzt sind? Covid? Klima? Mangelnde Gleichstellung? Oder Zuwanderung? Nichts von alledem, auch wenn ein Blick auf die öffentliche Diskussion der vergangenen Jahre dies nahelegt. Die grösste Bedrohung für unsere Gesellschaft ist die Art und Weise, wie wir mit diesen Themen umgehen.
Klaus W. Wellershoff ist Ökonom und leitet das von ihm gegründete Beratungsunternehmen Wellershoff & Partners. Er war Chefökonom der UBS und unterrichtet Nationalökonomie an der Universität St. Gallen.
Wer die letzten Jahre unseres politischen Diskurses verfolgt hat, muss erschüttert sein über die jeweils monatelang dauernde Einengung unserer Aufmerksamkeit. Seit anderthalb Jahren dreht sich unser Leben scheinbar nur noch um Corona. Davor war die Klimaveränderung das alles dominierende Thema. Afghanistan erinnert uns nun unsanft daran, dass da noch mehr in der Welt passiert als Corona und Klima.
Keine Frage, beides sind zentrale Themen. Wir sind gut beraten, mit beherzter Corona- und Klimapolitik weiterzumachen. Nur, es gibt mehr zentrale Themen für unsere Gesellschaft als diese beiden.
Und: Geht die Beschäftigung mit unserer Zukunft nicht auch mit etwas weniger Aufregung, Emotion, Polarisierung?
«Das Problem ist, dass vernünftig sein anstrengend ist. Emotionen lassen sich einfacher vermitteln.»
Natürlich geht das. Das Problem ist, dass vernünftig sein anstrengend ist. Emotionen lassen sich einfacher vermitteln als Sachinformationen – und Emotionen sind interessanter als Zahlen.
Wenn aber vor allem Betroffenheit und Haltung «in» und Zahlen «out» sind, dann ist klar, dass wir die Relationen der Dinge untereinander nicht mehr verstehen. Dass es so zu einseitigen Entscheidungen und zu ausser Proportion geratenem Mitteleinsatz in Bezug auf die gerade dominierenden Themen kommt, ist nicht verwunderlich.
«Wir müssen das moralisch Richtige tun»
Nehmen wir das Klima. Seit 14 Jahren publiziere ich dazu mit der Einschätzung, dass Klimawandel vom Menschen gemacht ist und dass Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig muss ich akzeptieren, dass unsere Klimapolitik natürlich das Weltklima nicht beeinflussen kann, dafür sind wir zu klein. Der Ausstoss an Klimagasen der Schweiz beträgt ungefähr einen Tausendstel der weltweiten Emissionen.
«Die Bedrohungen unserer Gesellschaft sind nicht die Themen der Zeit, sondern unser Umgang mit ihnen.»
Dieser Hinweis bedeutet aber nicht, dass wir nicht das moralisch Richtige tun müssen. Das werden auch konservative Klimaskeptiker einsehen. Wer die nachfolgenden Generationen nicht mit Schulden belasten will, kann doch nicht die Klimakosten an die Ungeborenen überwälzen, ohne rot zu werden.
Würden wir heute unseren gesamten Klimagasausstoss kompensieren und eine Netto-Null-Position im Jahr 2021 erreichen, würde uns das 3,3 Milliarden Franken kosten. Das entspricht etwas mehr als den Devisenmarktinterventionen der Nationalbank in den vergangenen Sommerferien. Anders ausgedrückt: Gibt es irgendeinen Grund, anzunehmen, dass ein Problem dieser Grössenordnung den dominanten Stellenwert in der öffentlichen Diskussion haben sollte, den die Klimapolitik aktuell geniesst?
Dass es so weit gekommen ist, liegt an uns selbst. Die Bedrohungen unserer Gesellschaft sind nicht die Themen der Zeit, sondern unser Umgang mit ihnen. Wir sind es, die die Bühne für Covid-19-Leugner und Klimaapokalyptiker bereiten. Es ist unsere Verantwortung als Nutzer der sozialen und der traditionellen Medien, diesem Theater unsere Aufmerksamkeit zu verweigern. Diese Vorstellung kommt uns sonst auf Dauer zu teuer zu stehen.