Die 27 EU-Chefs diskutieren am Freitag über einen 750-Milliarden Euro Corona-Wiederaufbaufonds - inklusive gemeinsamer Schulden. Yvan Lengwiler, Professor für Geldpolitik an der Universität Basel, sagt, gemeinsame EU-Schulden wären positiv für die Schweiz.
Der Vorschlag aus Brüssel sieht vor, einen Teil des Wiederaufbaufonds durch Schulden zu finanzieren, die die EU-Kommission am Kapitalmarkt aufnehmen soll. Was bedeutet das für die EU?
Lengwiler: Trotz «Konstruktionsfehlern» hat der Euro in den ersten zehn Jahren seines Bestehens erstaunlich gut funktioniert. Doch in Krisenzeiten zeigen sich die Schwachstellen: Es fehlt eine gemeinsame Fiskalpolitik. Spätestens in der letzten Finanzkrise haben wir gesehen, wie problematisch dies ist. Wäre Griechenland nicht Mitglied des Euroraumes, hätte es seine Währung abwerten können und damit seine Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Die Euro-Mitgliedschaft hat Griechenland diese Möglichkeit verunmöglicht.
So gesehen würde eine EU-Verschuldung einen Schritt näher an eine gemeinsame Fiskalpolitik führen. Wenn man davon ausgeht, dass eine Vertiefung der EU der richtige Weg ist, dann ist die gemeinsame Verschuldung also ein Schritt in die richtige Richtung.
Was haben gemeinsame Schulden mit Fiskalpolitik zu tun? Bei der Fiskalpolitik geht es doch um Steuern - nicht aber um Schulden
Schulden können als «Steuern in der Zukunft» angesehen werden: Wenn ein Staat früher oder später die Schulden tilgen muss, dann braucht er mehr Geld. Das erhält er durch die Besteuerung der Haushalte und Unternehmen in der Zukunft.
Aber würde eine gemeinsame Verschuldung nicht die EU gefährden?
Im Gegenteil: Es ist gefährlich, einem Land wie Italien, das schrecklich von der Corona-Pandemie getroffen wurde, nicht zu helfen. Italien erwartet zu Recht Solidarität von den anderen EU-Staaten. Erhält Italien diese Solidarität nicht, kann man sich fragen, ob die italienische Bevölkerung noch weiter in der EU mitmachen will.
Ausserdem tut man Italien unrecht. Italien ist im Vergleich etwa zu Japan viel weniger verschuldet, muss aber trotzdem höhere Zinsen für seine Staatsanleihen bezahlen. Japan hat derart tiefe Verschuldungskosten, weil das Land mit der eigenen Notenbank - der Bank of Japan - einen sicheren Abnehmer der eigenen Schuldtitel hat. Italien hat diesen Luxus nicht.
Zurzeit kauft die EZB zwar viele italienische Schulden, aber es ist ganz und gar nicht klar, dass die EZB unter allen Umständen diese Schuldtitel akzeptieren wird. Sie hat in der Vergangenheit bereits griechische Staatsschulden abgelehnt. Man erkennt hier deutlich, wie die Teilnahme an einer Währungsunion die fiskalische Souveränität eines Landes beschneiden kann.
Würde die EU Italien nicht genügend unterstützen: Welche Konsequenzen hätte dies?
Schon der Austritt Grossbritanniens aus der EU ist ein grosser Rückschlag für die Staatengemeinschaft. Ein Austritt Italiens aus dem Euro oder gar aus der EU wäre eine Katastrophe. Es wäre dann wohl das Ende des Euro, und vielleicht auch der EU selber. Die Schweiz würde das Ende des Euros sicherlich überleben, aber die kurz- und mittelfristigen Turbulenzen wären für alle sehr schmerzhaft.
Und was würden gemeinsame EU-Schulden für die Schweiz bedeuten?
Das wäre das Beste für die Schweiz. Denn es würde den Euro auf eine solidere Basis stellen und damit den Franken entlasten. Aktuell leidet der Franken nämlich unter dem schwachen Euro. Der Spielraum der Schweizerischen Nationalbank ist deswegen sehr gering geworden. Noch tiefere Negativzinsen gehen kaum, sonst nehmen die Leute ihr Geld von der Bank und legen es unters Kopfkissen. Und eine rasante Erstarkung des Frankens birgt konjunkturelle Risiken.
Die Pandemie könnte so gesehen eine Chance für die EU sein. Es wäre durchaus in der Logik der Staatengemeinschaft, sich in Krisenzeiten stärker zu integrieren. Die Montanunion, die frühe Vorläuferin der EU, ist aus einer Krise entstanden, und das Staatenbündnis hat sich in seiner Geschichte stets in Krisen näher aufeinander zubewegt. Vielleicht wird die Covid-Pandemie einen Schritt näher an die Vereinigten Staaten von Europa führen. Aber vielleicht auch nicht. Das hängt vom Weitblick der verantwortlichen Politikerinnen und Politiker ab.
(sda/mlo)