Das ukrainische Parlament hat Präsident Viktor Janukowitsch abgesetzt. In einer Sondersitzung legten die Abgeordneten am Samstag zudem den 25. Mai als Termin für Neuwahlen fest. Kurz danach kam die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko aus der Haft frei. Sie könnte die Regierungsgegner einen. Timoschenko erklärte, dass eine Diktatur gestürzt worden sei. Es müsse alles getan werden, um sicherzustellen, dass kein Demonstrant vergeblich gestorben sei. Timoschenko erklärte laut Interfax, sie sei sich sicher, dass die Ukraine in naher Zukunft der EU beitreten werde. Dies werde «alles verändern».
Janukowitsch, dem bereits im Laufe des Tages die Macht immer mehr entglitten war, sprach von einem Staatsstreich. Er werde nicht zurücktreten und vorläufig im Osten des Landes bleiben, sagte er kurz vor seiner Amtsenthebung. Rückendeckung erhielt Janukowitsch von Russland, das der Opposition vorwarf, gegen das am Freitag geschlossene Abkommen zu verstoßen. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow forderte Deutschland, Polen und Frankreich auf, für dessen Einhaltung zu sorgen.
Janukowitsch, der sich aus Kiew abgesetzt hat, sei nicht mehr in der Lage, die Amtsgeschäfte verfassungsgemäss auszuüben, hiess es im Beschluss des Parlaments. Nach dem Votum brach in der Abgeordnetenversammlung Jubel aus. Die Parlamentarier erhoben sich von ihren Sitzen und sangen die Nationalhymne.
Polizei und Innenministerium auf Seite der Opposition
Das für die Polizei zuständige Innenministerium stellte sich demonstrativ hinter die Forderung der Regierungsgegner nach einem raschen Wandel. Die Chefs der vier Sicherheitskräfte sagten den Regierungsgegnern zu, sie würden sich nicht in den Konflikt einmischen. Sie sprachen für die Bereitschaftspolizei Berkut, die Fallschirmjäger, den Militärgeheimdienst sowie die Eliteeinheit Alfa.
Am Morgen hatten Demonstranten Janukowitschs Amtssitz in der Hauptstadt übernommen. Die Sicherheitskräfte ließen sie gewähren. Seine Residenz 15 Kilometer außerhalb von Kiew wirkte verlassen. Hunderte Menschen wurden nach Angaben eines Reuters-Fotografen auf das Gelände des weitläufigen Anwesens gelassen, jedoch nicht ins Innere des Gebäudes.
Timoschenko winkt Anhängern auf dem Weg in die Freiheit zu
Im ostukrainischen Charkow verließ die frühere Ministerpräsidentin Timoschenko das Krankenhaus, in dem sie die vergangenen Jahre festgehalten worden war. Sie winkte ihren Anhängern zu, als sie mit einem Auto vom Gelände weggefahren wurde. Einen ihrer engsten Vertrauten, Olexander Turtschinow, hatte das Parlament am Morgen zu seinem Präsidenten gewählt. Die 53 Jahre alte Gegenspielerin Janukowitschs war 2011 wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Verträgen mit Russland über Erdgaslieferungen zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Westliche Regierungen sprachen von einem politischen Prozess.
Das Parlament wählte zudem den Oppositionsabgeordneten Arsen Awakow zum neuen Innenminister. Am Tag zuvor hatte es die Entlassung von Vitali Sachartschenko als Innenminister beschlossen. Er war eine Hassfigur der Demonstranten, die in dem Janukowitsch-Verbündeten einen der Hauptverantwortlichen für das Blutvergießen der vergangenen Tage sehen. Teilweise hatten Scharfschützen auf Demonstranten Jagd gemacht.
Keine neue Gewalt
Berichte über neue Gewaltausbrüche lagen nicht vor. Die Ukraine drohte in den vergangenen Tagen in einen Bürgerkrieg abzugleiten. Mindestens 77 Menschen wurden bei Kämpfen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften getötet, ehe es unter der Vermittlung Deutschlands, Polens und Frankreichs am Freitag doch noch gelang, eine politische Lösung für die schwerste Krise der einstigen Sowjet-Republik seit ihrer Unabhängigkeit auszuhandeln. Die Führung in Kiew machte darin zwar umfangreiche Zugeständnisse, doch vielen Demonstranten ging das nicht weit genug.
Insbesondere, dass es erst Ende des Jahres Neuwahlen geben sollte, stieß auf massive Kritik. Dem trug das Parlament Rechnung. Es setzte Wahlen für den 25. Mai an. An diesem Tag wird auch ein neues Europaparlament gewählt. Die Abwendung Janukowitschs von der Europäischen Union und die stärkere Anlehnung an Russland war der Auslöser der Staatskrise in der Ukraine vor drei Monaten.
Janukowitsch in der Ostukraine
Janukowitsch hielt sich laut Ortsmarke des Fernsehinterviews in Charkow auf. Die Menschen in der Ostukraine unterstützen den Kurs des Präsidenten überwiegend. Ein Rückzug Janukowitschs dorthin dürfte Befürchtungen für eine Spaltung des Landes wiederaufleben lassen. Der Gouverneur von Charkow erklärte auf einer Versammlung, er wolle die Einheit des Landes bewahren. Bis die verfassungsmäßige Ordnung wiederhergestellt sei, würden jedoch die Behörden in der Region die volle Kontrolle für Recht und Sicherheit dort übernehmen.
An dem Treffen nahmen Vertreter der Regionen Charkow, Donetsk, Dnjepopetrowsk, Lugansk und Krim teil, in deren Gebieten wichtige industrielle Zentren und die Heimat der russischen Schwarzmeerflotte liegen.
(reuters/moh)