Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Klage der Klimaseniorinnen wird ganz unterschiedlich gesehen: als richterlicher Befehl zu schärferer Klimapolitik, als krasses Fehlurteil und als Grund für die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Ich interpretiere es anders.

Richter sind Juristen. Sie sollen und können nicht den Sinn und die Effektivität der Klimapolitik beurteilen, sondern deren Gesetzmässigkeit. Falls die gesetzliche Situation unklar ist, müssen sie diese aus den vorhandenen Gesetzes- und Rechtsbruchstücken sowie aus den Aussagen wichtiger klimapolitischer Handlungsträger «konstruieren». Das Gleiche gilt für die Schwere von Verletzungen der richterlichen Konstrukte. 

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Der Gastautor

Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Fribourg sowie Forschungsdirektor von Crema – Center for Research in Economics, Management and the Arts.

Im Klimaseniorinnen-Fall war die Konstruktionsübung einfach. Viele meinen, die Richterinnen und Richter übernutzten als entscheidendes Bruchstück Art. 8 EMRK, welcher den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert. Das trifft meines Erachtens nur vordergründig zu. Das Anrufen von Art. 8 macht nämlich nur Sinn angesichts der zwei wirklich wichtigen Bruchstücke: Erstens haben sich die Regierungen im Vertrag von Paris darauf geeinigt, dass die Erwärmung 1,5 Grad nicht übersteigen soll. Zweitens haben die Regierungen – auch unser Bundesrat – und die Weltklimaberichte in ihren Zusammenfassungen für Politikerinnen und Politiker (aber nicht in den Haupttexten) stereotyp vor schwersten Schäden an der Natur und an vor allem älteren Menschen gewarnt, sollte das 1,5-Grad-Ziel übertroffen werden. Wer diese beiden Bruchstücke ernst nimmt und nur das Rechtliche prüft, muss so entscheiden wie der EGMR. 

Aktivistinnen der Klimaseniorinnen nach der Urteilsverkündung am 9. April in Strassburg.

Die Aktivistinnen des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz nach der Urteilsverkündung am 9. April in Strassburg.

Quelle: Keystone

Das Problem ist also weniger das EGMR-Urteil als die von der Politik geschaffene rechtliche Situation. Wer über die Klimamodelle hinaus auch an die Wirtschaft und Politik denkt, hat längst verstanden, dass die Ziele des Pariser Vertrags niemals erreicht werden können und sollten, unter anderem weil (a) die Erwärmung ab circa 1870 gemessen wird, die Welt seither schon um 1,2 Grad wärmer wurde und die Erwärmung auch bei extremer Absenkung der CO2-Emissionen aufgrund der Eigendynamik des Klimas weitergeht; (b) ein grosser Teil der Erwärmung aus der weit wichtigeren Abnahme von Luftverschmutzung stammt; (c) die europäische Klimapolitik viel zu teuer und ineffizient ist und so niemandem als Vorbild dienen kann; (d) die (alten) Menschen vor Klimawirkung viel effektiver durch technische Schutzmassnahmen als durch Emissionsminderung geschützt werden können; (e) bei der heutigen ineffizienten Klimapolitik dereinst Kipppunkte in Wirtschaft und Gesellschaft drohen: kumulative Wirtschaftskrisen und Klimadiktaturen.

Aber weshalb konnte dann der Bundesrat die Schweiz vor dem EGMR nicht wirksam verteidigen? Damit hätte er sein Gesicht verloren, nachdem er bei der Unterzeichnung des Vertrags von Paris und den Volksabstimmungen zur Energie- und Klimapolitik die Klimagefahren weit übertrieben hat. Das Urteil des EGMR ist deshalb so zu verstehen: Die Regierungen müssen nun entweder das vertraglich vereinbarte Unmögliche möglich machen – oder den Vertrag von Paris kündigen. Und sie sollen sich in Zukunft hüten, Verträge mit so unrealistischen Zielen und Versprechen zu unterschreiben.