Steigende Krankenkassenprämien waren im vergangenen Wahlkampf ein Topthema. Im Lichte der massiven Prämiensteigerung mussten sich letztlich alle Parteien dem Thema stellen. Was da den Wählern und Wählerinnen alles an Schuldzuweisungen, skurrilen Vorschlägen und unlösbaren Versprechen aufgetischt worden ist! Nun ist das wahlpolitische Jekami beendet, und es ist Platz für eine nüchterne Systemanalyse.

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Das gesamte Gesundheitswesen kostete die Volkswirtschaft im letzten Jahr 88 Milliarden Franken oder 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das ist in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der komplexeste Kostenblock mit den meisten divergierenden Stakeholdern, Profiteurinnen und Finanzierungsquellen. Politisch erweist sich der Gesundheitssektor als extrem lobbyintensiv: Über 90 Parlamentsmitglieder haben registrierte Interessenbindungen, für die Pharma sind es deren 12, für Ärzte und Ärztinnen 21, für Spitäler 27, für Krankenkassen 12. Diese Lobbygruppen blockieren sich häufig gegenseitig und verunmöglichen Reformen.

Die Gesundheitsversorgung wächst. Seit der Einführung des Krankenversicherungsobligatoriums 1995 haben sich die volkswirtschaftlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf nominal verdoppelt. Die KV-Prämien sind nominal pro Jahr um 3,5 Prozent gestiegen, mal schneller, mal langsamer. In der zwölfjährigen Amtszeit von Gesundheitsminister Alain Berset sind zwar namhafte Einsparungen, die im alleinigen Kompetenzbereich des Bundesrats lagen, realisiert worden: etwa 1200 Millionen Franken bei den Medikamenten, 500 Millionen im Ärztetarifsystem Tarmed, 200 Millionen bei den Labortarifen, jüngst auch 250 Millionen bei den Generikapreisen. Aber grundlegende Reformen im System, die Gesetzesänderungen erfordern, sind im Parlament an den Lobbys gescheitert oder wurden bis zur Wirkungslosigkeit verwässert.

Der Gastautor

Rudolf Strahm ist ehemaliger Preisüberwacher und Ex-SP-Nationalrat.

Das komplexe System Gesundheitssektor müsste an vielen Fronten gleichzeitig angegangen werden. Es bräuchte Massnahmen an der Preisfront bei Medikamenten, Geräten und Labortarifen. Nötig wäre eine Koordination oder Zusammenlegung der fünfzig Krankenkassen, die Unterbindung ihres Kundenabwerbens und der kostenintensiven Kassenwechsel der Patientinnen und Patienten. An der Spitalfront bräuchte es eine Reform der Kostenträgerschaft «stationär versus ambulant». Und nicht zuletzt an der Patientenfront auch mehr Selbstverantwortung, die finanziell belohnt wird. Und über all dem wäre eine effizientere Koordination zwischen Bund und Kantonen dringend.

Das Lobbygeflecht wird auch in Zukunft die Reformfähigkeit einschränken. Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass die Kostenentwicklung im Gesundheitsbereich zum Stillstand kommen wird. Der Gesundheitssektor wird auch in Zukunft jährlich real um 2 bis 4 Prozent mehr kosten. Die Alterung der Bevölkerung, die laufende Ausdehnung der technischen und therapeutischen Möglichkeiten, wachsende Krankheitsfelder wie Folgen von Adipositas oder Sportverletzungen sorgen dafür, dass sich die Gesundheitsleistungen kosten- und mengenmässig weiter ausweiten.

Nun fantasieren Exponenten und Exponentinnen der bürgerlichen Seite von einer Ausdünnung des Leistungskatalogs für die Krankenversicherungen (SVP) oder, mit Bezug zum Migros-Modell, von einer billigen «Budget-Krankenkasse» (FDP). Die Linke wiederum liebäugelt mit einer schweizweiten Einheitskasse. Ich denke, diese Reformpilotinnen und -piloten unterschätzen die politische Sensibilität bei der Gesundheit. Jeder Kraftakt, der nicht politisch und sozial ausgewogen ist, wird beim Referendum scheitern!

Es wird nur mit Kompromisslösungen Reformdurchbrüche geben. Ich denke, dass neu gebildete Gesundheitsregionen (wie etwa der Arc Jurassien oder die Ostschweiz) für ihr Gebiet eine Ausschreibung für einen vorgegebenen (bundesweit festgelegten) Leistungskatalog veranstalten und dann der preisgünstigsten Krankenkasse mit dem tiefsten Grundtarif für fünf Jahre die alleinige Versicherungsdeckung für alle Bürgerinnen und Bürger zuschlagen könnten. Dabei kann diese Kasse die Tarifverträge mit den Leistungserbringern in ihrem Gebiet selber aushandeln. Also ein System nach dem Prinzip «halb Steuerung – halb Wettbewerb».

Die Gesundheitskosten werden aber sicher weiter wachsen. Zwei Drittel der Bevölkerung werden die wachsenden Kassenprämien bezahlen können. Doch man muss sich – quasi als Second-best-Lösung – darauf einstellen, dass Bund und Kantone das System der Prämienverbilligungen für Einkommensschwächere und kinderreiche Familien in Zukunft noch mehr sozial ausbauen müssen. Das ist zugegebenermassen eine nüchterne Resignationslösung, aber sie wirkt gezielt, und sie ist realistisch.