Europa hat schreckliche Probleme. Zum einen drohen Herr Putin und sein Russland, zum anderen hat J. D. Vance wenigstens halb recht: Das grösste Problem Europas ist die europäische Politik – genauso wie das grösste Problem Amerikas die amerikanische Politik ist.
Die Europäer und US-Amerikaner leben im besten realen System: im demokratischen Kapitalismus. Angesichts von dessen Vorteilen müssten sie die Drohungen der Herren Putin und Xi eigentlich nur ein mitleidiges Lächeln kosten. EU und USA haben zusammen mit ihren Verbündeten Grossbritannien, Kanada, Australien, Japan, Südkorea und Taiwan über 1,1 Milliarden sehr reiche Einwohner. Dagegen sind Russland mit 0,14 Milliarden und China mit 1,4 Milliarden deutlich ärmeren Einwohnern arme Zwerge. Weshalb also sagen die Amerikaner und Europäer den Herren Putin und Xi nicht einfach: «Wir wollen nicht, dass ihr euer System ausbreitet, denn unser System des demokratischen Kapitalismus bringt den Menschen viel mehr Freiheit, Wohlstand und Lebensglück; wenn ihr es trotzdem versucht, müssen wir euch leider zeigen, wie überlegen unser System ist.»
Der Grund für das westliche Zaudern ist simpel. Die heutigen und früheren Regierungen haben ihre Systeme selbst ausgesaugt. Sie haben die Steuern, Schulden und Bürokratie auf ein Niveau getrieben, das ihre Länder lähmt. Gegen die Anmassungen Putins braucht es starke und einsatzbereite Armeen, sodass Putin weiss: Jeder Angriff endet für ihn im Desaster. Doch das bedingt einen schnellen und wirksamen Ausbau der Verteidigungskapazitäten.
Der Gastautor
Reiner Eichenberger ist Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Forschungsdirektor von Crema – Center for Research in Economics, Management and the Arts.
Die naheliegende Lösung dafür wären höhere Steuern. Aber: Die Steuersätze vieler Länder sind schon so hoch, dass eine weitere Erhöhung kaum Mehreinnahmen bringt, sondern vor allem Abwanderung, Steueroptimierung und Schattenwirtschaft. Zudem ist die Bürokratie so ausufernd, dass zusätzliches Geld kaum mehr Verteidigungskraft bringt, sondern vor allem noch ineffizientere und kompliziertere Verwaltungsabläufe.
Nach drei Jahren Krieg müssten die EU und die USA längst Oberwasser haben. Immerhin hat sich auch die Kriegstechnologie in der Zeit galoppierend entwickelt. Aber wer ist führend, etwa im Drohneneinsatz? Nicht der grosse, reiche Westen, sondern die kleine, arme Ukraine. Und wo sind all die Waffen, die der Westen längst produziert haben müsste? Sie befinden sich – bestenfalls – in Planung.
Wie könnten die europäischen Regierungen die Stärken des demokratischen Kapitalismus doch noch ausspielen? Sie wollen zusätzliche Schulden machen und dafür die Schuldenbremsen aushebeln. Damit empfehlen die Regierungen das, was sie immer schon wollten: Schulden machen und Geld ausgeben auf Kosten zukünftiger Generationen. Kann das funktionieren?
Wenn die Regierungen bisher ein enges finanzielles Korsett gehabt und ihre Aufgaben effizient erledigt hätten, wäre es einfach und problemlos, die Aufrüstung über Schulden zu finanzieren. Aber das ist nicht die europäische Welt. Die gegenwärtigen Finanzprobleme sind nicht die Folge zu tiefer Steuereinnahmen, sondern die Folge zu hoher und oft verschwenderischer Ausgaben. Deshalb wurden ja auch Schuldenbremsen eingeführt. Sie sollten zukünftige Regierungen und Parlamente in ihrer Ausgabenwut disziplinieren. Wenn nun die Schuldenbremsen gelockert werden, ist in keiner Weise sichergestellt, dass die Regierungen jetzt die Mittel plötzlich sparsam und effektiv ausgeben. Vielmehr ist zu erwarten, dass das zusätzliche Geld nur kleinerenteils in die Sicherheit fliesst, aber grossenteils in Ausgaben zugunsten der Regierungen und ihrer Klientel.
Schuldenbremsen sollten deshalb nur ausgesetzt oder abgeschwächt werden, wenn ihre disziplinierende Wirkung nun anders garantiert und institutionalisiert wird. Doch darüber haben all die Regierungen und Parteien, welche die Schuldenbremsen aushebeln wollen, noch kein Wort verloren.
Was würde wirken? Wenn die heutigen starren, mechanischen Schuldenbremsen geschwächt werden, müssen neue, flexible, menschliche Ausgabenbremsen eingeführt werden. Ideal dafür sind volksgewählte Finanzkommissionen. Sie können die Mittelverwendung durch Regierung und Parlament analysieren, kritisieren sowie dem Volk – oder, falls das Volk nichts zu sagen hat, dem Parlament – Empfehlungen zu Annahme oder Ablehnung machen und konkrete Gegenvorschläge vorlegen. Ihre Mitglieder werden wie Regierungsräte in Mehrheitswahlen in einem Wahlkreis mit mehreren Sitzen gewählt und sind deshalb parteilich durchmischt. Weil sie selbst kein Geld ausgeben können, haben sie weit stärkere Anreize als Regierungen und Parlamente, für eine sparsame und effektive Mittelverwendung einzutreten.