Sie sind 71 Jahre alt – und das erste Mal in Davos. Ihr Eindruck?
Angus Deaton*: Das WEF ist ein schräger Anlass.

Warum?
Davos ist anders als alles andere. Die meisten Leute, die das erste Mal hierher kommen, würden wohl sagen, dass sie so etwas noch nie erlebt haben.

Aber was genau ist schräg? Dass hier Ultrareiche über die Probleme der Mittelklasse diskutieren?
Ja, so ähnlich. Ich glaube nicht, dass sich die Mittelklasse gross dafür interessiert, was hier oben am WEF passiert. Man spricht an diesem Event viel über die bedrohte Mittelklasse. In Wirklichkeit sollten sich aber eher die Leute hier oben Sorgen um ihre Weiterexistenz machen.

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Sie meinen Ökonomen und CEOs?
Die Elite, wenn man sie so nennen will. Es gab in Amerika bereits einen grossen Backlash gegen diese Schicht. Viele Menschen sympathisieren nicht mit der Weltsicht des WEF und seiner Teilnehmer.

Geht es der Mittelklasse in den USA wirklich so schlecht?
Sie stirbt.

Ökonomisch?
Nein, wortwörtlich. Viele Menschen bringen sich um – mit Drogen. Die Sterberaten steigen nach einem jahrhundertelangen Rückgang nun wieder an. Ich habe das hier in Davos vielen Leuten erzählt – aber niemand hört wirklich zu. Man spricht am WEF über den Segen der Technologie und davon, dass am Ende die Globalisierung doch allen zu Gute kommen wird. Und dann propagiert man Politik, die gar niemand will. Aber wenn alles okay ist, warum bringen sich die Menschen dann um?

Ist es mehr ein Wirtschafts- oder ein Gesellschaftsproblem?
Beides. Meine Koautoren und ich haben uns mit den Lebensläufen von Mittelklasse-Amerikanern beschäftigt. Viele sind in finanziellen Schwierigkeiten. Die weisse Mittelklasse ist bei der Einkommensentwicklung schlecht weggekommen. Dasselbe gilt aber auch für Schwarze und für Hispanics. In diesen Gruppen gibt es aber weniger Drogentote und Überdosen.

Ich habe die Wahlen in New York verfolgt. Am Tag danach klagten viele Leute: Oh nein, unter Trump wird es Rückschritte bei der Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren geben. Aber keiner machte sich Sorgen um die drohende Abschaffung von Obamacare.
Wie gesagt, in den USA gibt es einen ökonomischen Konflikt und einen Kulturkonflikt. Man sagt ja, Davos sei eine Blase. Aber auch die gesamte US-Ostküste und Kalifornien sind eine Blase, wenn man diese Orte mit dem Rest von Amerika vergleicht. Barack Obama hat dieser Tatsache manchmal zu wenig Rechnung getragen. Ein Beispiel ist diese unsägliche Diskussion um geschlechterneutrale WCs. Dieses Thema betrifft wohl ziemlich wenig Menschen, hat aber viele Leute vor den Kopf gestossen.

Ist der Populismus eine direkte Folge der ökonomischen Ungleichheit?
Grundsätzlich ist Ungleichheit ein extrem wichtiges Thema, das man intensiv studieren sollte. Aber im Zusammenhang mit dem Populismus ist man damit wohl auf der falschen Fährte. Oxfam hat hier in Davos diesen Bericht vorgestellt: Die acht reichsten Menschen kontrollieren die Hälfte des globalen Reichtums. Auf dem Spitzenplatz steht Bill Gates. Aber wäre die Welt wirklich ein besserer Ort, wenn Bill Gates nicht so viel Geld gemacht hätte? Ich glaube, das wäre ein Denkfehler.

Die Trump-Wähler selbst scheinen sich an Ungleichheiten auch nicht gross zu stören?
Natürlich nicht. Oder würden sie sonst für einen Milliardär stimmen, der in seinem eigenen Flugzeug um die Welt jettet? Diese Leute sorgen sich nicht generell um Ungleichheiten, sondern um ihre persönliche Situation. Sie bringen ihre materiellen Nöte nicht in Verbindung mit den Superreichen.

IWF-Chefin Lagarde sagt, es müsse mehr Umverteilung geben.
Die Superreichen wollen keine Umverteilung, und die Leute am unteren Ende auch nicht. Sie hassen das. Wir haben letzten Sommer fünf Wochen in Montana verbracht. Eines Tages gingen wir mit einem Armeeveteranen fischen, ein Mann in seinen Fünfzigern. Er sagte: Ich habe echte Probleme, eine Gesundheitsversicherung zu finden. Wir sagten ihm: Du bist doch Veteran, für euch ist die Krankenkasse gratis. Er meinte: Das sind staatliche Almosen, die würde ich niemals nutzen!

Liegt Christine Lagarde also falsch?
Ich bewundere Christine Lagarde. Aber hier oben in Davos zu sitzen und zu sagen, wir müssen umverteilen, das ist einfach… schräg! Ich meine, das Volk muss solche Dinge beschliessen, nicht die Besucher am World Economic Forum.

Die grosse Frage ist: Was sonst? Wie soll man der Mittelklasse helfen?
Ein guter Anfang wäre, einfach mal auf die Leute zu hören. Sie in den Parlamenten besser zu repräsentieren. Die meisten Kongressabgeordneten in den USA sind ja Reiche. Sehr wenig Themen, die für gewöhnliche Leute wichtig sind, werden im Kongress je diskutiert. Die dortige Agenda wird von Lobbyisten und Konzerninteressen bestimmt. Wenn man mal diesen Crony-Kapitalismus und dieses organisierte Rent-Seeking konsequent attackieren würde, dann würde die Ungleichheit von selbst wieder sinken.

Ist Donald Trump der richtige Mann dafür?
Ich weiss es nicht. Er sagt so viele widersprüchliche Dinge, dass man sich keinen Reim darauf machen kann, was er wirklich machen wird. Natürlich ist schwer vorstellbar, dass all diese Millionäre und Milliardäre, die Trump in die Regierung berufen hat, tatsächlich das System reformieren werden. Auf der anderen Seite könnte man argumentieren, dass sie es als Superreiche nicht nötig haben, Geld zu stehlen. Man wird sehen.

Trumps Berater Anthony Scaramucci erzählt hier in Davos: Wartet nur – unsere Politik wird so viele Jobs und so viel Wachstum schaffen, dass sich die Probleme von selbst lösen. Geht das überhaupt?
Wir werden niemals wissen, ob dieses Statement stimmt oder nicht. Die US-Wirtschaft läuft bereits jetzt nicht schlecht. Viele Jobs sind in den letzten Jahren hinzugekommen. Sollte es in den nächsten zwei Jahren im ähnlichen Stil weitergehen, wird niemand mit Sicherheit sagen können, wie viel davon Trumps Verdienst ist und wie viel das Verdienst von Obama.

Trump will mit Protektionismus und Unternehmenssteuernachlässen der Mittelklasse helfen. Funktioniert das?
Wenn Trump sagt, dass jetzt die Kohleminen wieder in Betrieb gehen werden, dann wird das sicher nicht passieren. Aber hey, wir sollten nicht hier sitzen und über Politik diskutieren. Wer sind wir überhaupt? Die Politik wird von gewählten Volksvertretern gemacht, nicht von uns.

Worüber sollten wir dann sprechen?
Wir sollten erst einmal etwas Demut an den Tag legen.

Ist das eine generelle Botschaft an Ökonomen?
Der Diskurs in Davos hat nicht viel mit Ökonomie zu tun. Zumindest nicht mit jener Ökonomie, der ich als Wirtschaftswissenschaftler begegnet bin. Der universitären Volkswirtschaftslehre geht es nicht so schlecht, wie das oft behauptet wird. Viele Ökonomen arbeiten empirisch und beschäftigen sich sehr wohl mit den Dingen, die in der Realität passieren.

Kommen Sie nächstes Jahr nochmal nach Davos?
Ich weiss nicht. Mal sehen, ob die mich nochmal einladen.

*Sir Angus Stewart Deaton ist ein britisch-US-amerikanischer Ökonom. Er ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University und erhielt 2015 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.