Schluss, aus, fertig: Deutschland ist vor einer Woche aus der Atomkraft ausgestiegen. Auch die Schweiz will ihre Reaktoren langfristig abschalten. Doch angesichts der schwersten Energiekrise seit je sollten wir nicht den gleichen Fehler machen wie unser Nachbarland – sondern müssen unsere Haltung gegenüber der Kernenergie überdenken.

Die derzeitige Energiekrise ist laut der Internationalen Energieagentur (IEA) noch schlimmer als die Ölkrise in den 70er Jahren. Geopolitik und Klimawandel zwingen uns zu schwierigen Entscheidungen. Wenn wir in der Schweiz die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern wollen, eine stabile Energieversorgung sichern und möglichst energieautark sein wollen, sollten wir die Kernenergie als Teil des künftigen Energiemixes betrachten.

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Die Vorzeichen für Atomkraft haben sich fundamental geändert: durch das Aufkommen modernster Nukleartechnologien, die Dringlichkeit der Dekarbonisierung und durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine, der den Wunsch nach Energieunabhängigkeit befeuert. Kürzlich haben französische Gesetzgeber argumentiert, warum Frankreich nicht länger einen europäischen Rahmen akzeptieren könne, der den «vitalen Interessen Frankreichs» zuwiderlaufe. Sie forderten dringende Reformen der gesamten europäischen Energiepolitik. Auf die hartnäckige Lobbyarbeit der Franzosen, die 60 Prozent ihres Strombedarfs mit Kernenergie decken, ist bereits zurückzuführen, dass die Atomkraft von EU-Kommission und Parlament als «grün» geadelt wurde und im Green New Deal berücksichtigt wird.

«Sicherheit sollte nicht mehr unsere Hauptsorge sein.»

Die Schweiz verfügt aktuell über vier Kernreaktoren, die bis zu 40 Prozent ihres Stroms erzeugen. Die Energiestrategie 2050 sieht einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie und eine stärkere Abhängigkeit von Wasserkraft und intermittierenden erneuerbaren Energien vor. Diese Entwicklungen sind für die Schweiz ungünstig. Denn weil sie selbst auf den Neubau von Reaktoren verzichtet hat und die bestehenden abschalten will, muss sie im Winter Kernenergie vom französischen Atomstromanbieter EDF beziehen – und das auch noch zu einem Aufpreis.

Dabei verfügt die Schweiz über ein technisches und wissenschaftliches Know-how und ein Ökosystem von Weltrang, um die Kernenergie sicher voranzubringen. Mit den Fortschritten bei den kleinen modularen Reaktoren (SMR) sollte die Sicherheit nicht mehr die Hauptsorge sein, die uns von der Nutzung der Kernenergie abhält.

«Die Schweiz ist bei der Energiesicherheit ins Hintertreffen geraten.»

Bei der Gestaltung unserer (Energie-)Zukunft dürfen wir nicht vergessen, dass externe Faktoren wie Krieg und Pandemien ausserhalb unserer Kontrolle liegen. Viele gut gemeinte politische und regulatorische Reformen haben unbeabsichtigte negative Folgen. Um Energiesicherheit zu erreichen, sind Selbstversorgung und Eigenständigkeit erforderlich. Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die Schweiz dabei ins Hintertreffen geraten ist. Es war vor allem Glück, dass die Schweiz ohne Strommangel durch den Winter kam.

Aus dieser Lektion müssen wir lernen. Eine nachhaltige und sichere Zukunft braucht Lösungen, die anpassungsfähig, flexibel und widerstandsfähig gegenüber äusseren Einflüssen sind. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Schweiz bei diesem Wandel gewinnen kann, wenn wir unsere künftige Atompolitik neu ausrichten und überdenken.

Der Unternehmensberater Krishnaswamy Sankaran hat mehrere Unternehmen in den Bereichen Nachhaltigkeit und Greentech aufgebaut und lehrt als Gastdozent an der ETH Zürich. Für seine Arbeit wurde er mit dem Nordic Energy Challenge und dem Mission Innovation Award ausgezeichnet.

So steht es um den Strom in der Schweiz

In den letzten zehn Jahren lag der Schweizer Stromverbrauch stabil bei 55 bis 60 TWh. Während die Schweiz im Sommer dank 61,5 Prozent Wasserkraft (2021) im Produktionsmix einen Überschuss an Strom produziert, muss sie im Winter Strom einkaufen. Im Jahr 2019 wurde der Strom hauptsächlich aus Deutschland, Frankreich und Österreich importiert (29,5 TWh Gesamtimporte) und nach Italien exportiert (22,2 TWh Gesamtexporte). Aus Kernkraft werden aktuell 29,9 Prozent (2021) des Schweizer Strombedarfs produziert. Im Juni 2011 beschloss das Parlament, keine Atomreaktoren mehr zu ersetzen und schrittweise aus der Kernenergie auszusteigen. Dies wurde in einer Volksabstimmung zur Energiestrategie 2050 im Jahr 2017 mit 58 Prozent bestätigt.