Kremlchef Wladimir Putin hat eine Teilmobilmachung angekündigt und in einer Fernsehansprache am Mittwoch westliche Staaten mit neuen Drohungen bedacht. Er drängte sich damit auch erfolgreich auf die Tagesordnung bei den Vereinten Nationen in New York. US-Präsident Joe Biden warf Putin dort «ungeheuerliche Handlungen» vor. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht in der Reaktion des Kremls auf die militärischen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte einen «Akt der Verzweiflung».

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Bei Protesten gegen die Teilmobilmachung wurden in Russland Hunderte Menschen festgenommen. Das Bürgerrechtsportal OVD-Info zählte am Mittwochabend russlandweit 735 Festnahmen. In der Hauptstadt Moskau seien 260 Demonstranten festgesetzt worden, in St. Petersburg 267. In den beiden grössten Städten des Landes gab es auch die grössten Kundgebungen. In Moskau forderten die Menschen in Sprechchören ein «Russland ohne Putin». In Tomsk und Irkutsk in Sibirien, in Jekaterinburg am Ural und an anderen Orten gingen demnach vereinzelt Menschen auf die Strasse. Angesichts massiver staatlicher Repressionen dürften die Proteste aber wohl nicht allzu gross ausfallen. Auch in anderen europäischen Städten, wie in Prag (oben im Bild), gab es Proteste.

«Russland kann diesen verbrecherischen Krieg nicht gewinnen», sagte Scholz am Rande der UN-Generaldebatte. Er reagierte damit auch auf die geplanten Scheinreferenden. Der Kanzler bekräftigte, dass die Abstimmungsergebnisse von der Weltgemeinschaft «niemals akzeptiert» würden. Sie könnten «keine Rechtfertigung dafür bieten, was Russland tatsächlich vorhat, nämlich mit Gewalt das Land des Nachbarn zu erobern oder Teile des Territoriums davon», betonte Scholz.

Knapp sieben Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine will der Kreml mit der Mobilisierung von 300 000 Reservisten auch Personalprobleme an der Front lösen. Putin erklärte zudem, angekündigte Abstimmungen in besetzten ukrainischen Gebieten über einen Beitritt zu Russland zu unterstützen. Sie sollen vom 23. bis 27. September in den international nicht anerkannten «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk im Osten sowie im südlichen Gebiet Cherson und in der Region Saporischschja abgehalten werden, weltweit werden sie als völkerrechtswidrig angesehen: Sie laufen ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ab. Ein Einsatz unabhängiger internationaler Beobachter ist nicht möglich.

«Das ist kein Bluff»

Auf ähnliche Weise annektierte Russland 2014 die ukrainische Schwarzmeer-Halbinsel Krim. International wurde die Abstimmung nicht anerkannt. Auch diesmal ist eine Anerkennung nicht in Sicht. Dennoch würde der Kreml Angriffe auf Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja nach erfolgreichen Scheinreferenden wohl als Angriffe auf das eigene Staatsgebiet werten. Putin drohte: «Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist kein Bluff.»

US-Präsident Biden warf Russland vor, die Ukraine vernichten zu wollen. «In diesem Krieg geht es schlicht und einfach darum, das Existenzrecht der Ukraine als Staat auszulöschen. Und das Recht der Ukraine, als Volk zu existieren», sagte Biden in seiner Rede. «Wer auch immer Sie sind, wo auch immer Sie leben, was auch immer Sie glauben, das sollte Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen.»

Für Kriegsverbrechen in der Ukraine müsse Moskau zur Rechenschaft gezogen werden, forderte Biden in New York. Er verurteilte nicht nur von Russland geäusserte nukleare Drohungen scharf, sondern auch solche von Nordkorea und anderen Ländern. «Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.»

Selenskyj: Russland laufen die Soldaten weg - Keine Atomwaffen

Nach Meinung des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zeigt die angekündigte Teilmobilisierung in Russland, dass Moskau Probleme mit seinem Militärpersonal hat. «Wir wissen bereits, dass sie Kadetten mobilisiert haben, Jungs, die nicht kämpfen konnten. Diese Kadetten sind gefallen», sagte Selesnkyj im Interview der «Bild». Putin brauche «eine millionenschwere Armee», sehe aber, «dass seine Einheiten einfach weglaufen». Zu Putins indirekter Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen sagte Selenskyj: «Ich glaube nicht daran, dass er diese Waffen einsetzen wird.» Er räumte aber ein: «Wir können diesem Menschen nicht in den Kopf schauen, es gibt Risiken.» In der Nacht zu Donnerstag wurde in New York auch eine Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten erwartet.

Nach dem Befehl zur Teilmobilmachung in Russland beklagte der im Straflager inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny bei einem Auftritt vor Gericht, dass der «verbrecherische Krieg» Putins immer schlimmere Ausmasse annehme. Der Kremlchef wolle so viele Menschen wie möglich in das Blutvergiessen in der Ukraine mit hineinziehen, sagte Nawalny am Mittwoch. «Um seine eigene Macht zu verlängern, zerfleischt er das Nachbarland, tötet dort Menschen. Und jetzt wirft er noch eine riesige Zahl an russischen Bürgern in den Fleischwolf», so Nawalny.

Russland-Experte: Putin wird nicht gut aus diesem Krieg rauskommen

Der Russland-Experte Stefan Meister glaubt indes nicht, dass sich die Ukraine von der neuen Eskalation durch Russland demotivieren lasse. «Die Leute, die jetzt eingezogen werden, sind auch nicht unbedingt die Bestausgebildetsten und Kampffähigsten.» Es könne Wochen oder gar Monate dauern, bis sie alle einsatzfähig seien. Bis dahin könne die Ukraine noch ganze Landesteile zurückerobert haben, sagte der Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Zudem gerate Putin in Russland selbst zunehmend unter Druck, der innere Rückhalt schwinde. «Umso mehr die russische Gesellschaft in diesen Krieg hineingezogen wird, umso mehr Opfer, auch Tote auch zurückkommen aus der Ukraine, umso grösser wird der Druck sein auf Putin. Ich sehe hier nicht, dass Putin da gut rauskommen wird aus diesem Krieg», sagte Meister weiter.

(AWP)