Während sich die Energiekrise auf dem Kontinent Woche für Woche verschärft, werden die Planspiele immer dramatischer. Am Mittwoch teilte das französische Réseau de Transport d’Electricité mit, dass es in diesem Winter wahrscheinlich mehrmals dazu auffordern muss, den Verbrauch zu drosseln, um Stromausfälle zu vermeiden. Auch Finnland hat die Warnungen vor Stromausfällen verschärft.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat die Gasexporte nach Europa wiederholt reduziert, um sich für die Sanktionen wegen seines Einmarsches in die Ukraine zu revanchieren. Nachdem die Lieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream komplett eingestellt wurden, ist die Aussicht auf einen akuten Mangel an Erdgas zum Heizen und zur Stromerzeugung allgegenwärtig.
«Tatsache ist, dass es in Europa nicht genug Gas gibt», sagt Ed Birkett, von der Londoner Denkfabrik Onward. «Wenn die Nachfrage nicht gesenkt wird, werden Betriebe und im Extremfall auch Haushalte vom Netz gehen müssen.»
Beispiele von Ausfällen aus den USA und Afrika
Präzedenzfälle gibt es viele. 2021 fiel das texanische Stromnetz während eines Kälteeinbruchs aus, sodass Millionen Menschen tagelang ohne Strom waren. In Kalifornien kam es diesen Monat bei extremer Hitze beinahe zu einer solchen Situation.
Auch in Südafrika sind Stromausfälle keine Seltenheit, was vor allem auf jahrelange Unterinvestitionen und vernachlässigte Wartung zurückzuführen ist. Dort werden sie gebietsweise zu bestimmten Zeiten geplant, wenn nicht genügend Strom garantiert werden kann. Obwohl die Bewohnerinnen und Bewohner sie gewohnt sind, sind die Blackouts lästig, da sie Hausgeräte, Wifi oder Verkehrsampeln lahmlegen.
Temperaturen sind entscheidend
In Europa wird viel vom Wetter der kommenden Monate abhängen. Schon kleine Temperaturunterschiede können den Strombedarf radikal verändern. In Frankreich führt ein Temperaturabfall von 1 Grad Celsius normalerweise zu einem Anstieg des Strombedarfs um etwa 2400 Megawatt, was der Leistung von zwei der 56 französischen Kernreaktoren entspricht.
«Wenn wir einen extremen Winter haben, würde sich das auf unser Stromnetz genauso nachteilig auswirken wie in Texas», sagt Adam Bell, ein früherer leitender Beamter im britischen Wirtschaftsministerium. «Alles, was die Menschen jetzt tun können, um ihre Nachfrage zu senken, wird der Sache insgesamt helfen.»
Die Europäische Kommission schlug am Mittwoch eine Verordnung vor, in der die Mitgliedsstaaten aufgefordert werden, den Stromverbrauch um 10 Prozent insgesamt, und verbindlich um 5 Prozent während Spitzenzeiten zu senken. Staatliche Hilfsmassnahmen für die unter der Teuerung leidenden Verbraucher könnten das Problem sogar verschärfen, da sie die Anreize fürs Stromsparen senken.
Hinzu kommen Probleme, die mit Russland-Gas gar nichts zu tun haben. Frankreich, eigentlich Europas grösster Stromexporteur, muss in diesem Winter möglicherweise grosse Mengen Strom importieren, weil die alternden Kernkraftwerke immer unzuverlässiger werden. Der trockene Sommer hat Wasserkraftwerke in ganz Europa beeinträchtigt, auch in Norwegen, das normalerweise ebenfalls viel Strom exportiert.
Den Haushalten den Strom abzudrehen, ist natürlich eine der letzten Eskalationsstufen. Gelindere Mittel sind bereits in vollem Einsatz. Thema vieler Witze sind Aufforderungen wie die des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck, kürzer und kälter zu duschen, oder die Wiederentdeckung des Waschlappens durch seinen Parteifreund, Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann.
Geringere Heiztemperaturen in öffentlichen Gebäuden, kältere Schwimmbecken und weniger Aussenbeleuchtung sind vielerorts schon fest eingeplant. Der nächste grosse Schritt ist in der Regel, dass energieintensive Unternehmen ihren Verbrauch reduzieren oder den Betrieb einstellen. Danach geht es ans Eingemachte.
Frankreich führt Strom-Ampelsystem ein
In Frankreich zeigt das Ecowatt-System den Verbrauchern und Verbraucherinnen die Prognosen für Stromangebot und -nachfrage in den kommenden Tagen: grün, orange oder rot. Wenn der Netzbetreiber eine kritische Situation erwartet, gibt er am Vorabend eine Warnung aus. Im Extremfall können das «lokale, kontrollierte Stromausfälle von maximal zwei Stunden Dauer» sein, heisst es bei Ecowatt.
Geplante Stromausfälle sind zwar schlecht, aber immer noch besser als ungeplante. Sie ermöglichen es den Betreibern, Ausfälle einzugrenzen, anstatt in eine chaotische Situation zu geraten, in der es Tage dauert, das System wieder hochzufahren.
In Kalifornien hat das zuletzt funktioniert: Am 6. September rief die Katastrophenschutzbehörde des US-Bundesstaates die höchste Stufe des Netznotstands aus und verschickte eine Warnung per SMS: «Schalten Sie jetzt bis 21 Uhr den Strom ab oder reduzieren Sie ihn, wenn es Ihr Gesundheitszustand erlaubt.» Innerhalb weniger Minuten sank der Verbrauch und der Notstand konnte aufgehoben werden, ohne dass es zu einem Stromausfall gekommen wäre.
«Insgesamt scheint die Botschaft, die Nachfrage in ganz Europa zu reduzieren, noch nicht angekommen zu sein», so Simone Tagliapietra, Mitarbeiterin der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. «Gehen Sie einfach durch unsere Städte: Sie sehen immer noch Supermärkte, die nachts geschlossen und beleuchtet sind. Wir sind einfach noch nicht so weit.»
(Bloomberg/mth)