Pünktlich zu Weihnachten haben sich Grossbritannien und die Europäische Union auf ein Abkommen geeinigt. Und damit in letzter Minute, denn mit dem Jahreswechsel scheidet das Vereinigte Königreich aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion aus.
Die Unterhändler beider Seiten hatten sich erst an Heiligabend auf das knapp 1250 Seiten starke Abkommen geeinigt. Wichtigster Punkt ist, einen unbegrenzten Warenhandel ohne Zölle sicherzustellen. Darüber hinaus regelt der Vertrag unter anderem die Zusammenarbeit bei Fischerei, Flug- und Strassenverkehr, Energieversorgung, Verbrechensbekämpfung und Sozialversicherungen.
Damit ist das befürchtete Chaos zwar erst einmal abgewendet, doch das Vertragswerk regelt nicht alle Aspekte der künftigen Beziehungen. Denn auch nach der Zustimmung aller beteiligten Parlamente, die ohnehin erst Anfang 2021 erfolgen dürfte, wird über wichtige Themen weiterverhandelt, etwa den Zugang britischer Finanzdienstleistungen zum europäischen Markt.
Nun ist die Schweiz am Zug
In der Schweiz gilt der Brexit einigen als Vorbild oder zumindest wollte man die anhaltenden Verhandlungen zwischen London und Brüssel abwarten, bevor man das eigene Verhältnis zur EU regelt. Sprich: Das Rahmenabkommen liegt seit zwei Jahren auf Eis. Doch nun wird sich die Schweiz bewegen müssen.
Allerdings taugt der Brexit-Vertrag nicht als Vorbild für das Rahmenabkommen, sagen führende Europarechtler. Christa Tobler, Professorin an der Universität Basel, und Rechtsanwalt Jacques Beglinger haben den britischen Handelsvertrag unter die Lupe genommen: Grossbritannien übernimmt kein EU-Recht, um besseren Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten. Schliesslich hatten die Brexit-Hardliner einen klaren Schnitt mit der EU gewünscht – und ihn bekommen.
Anders die Schweiz: Bereits durch die Bilateralen Verträge geniesst die Schweiz einen besseren Zugang zum Binnenmarkt und hat im Gegenzug EU-Recht übernommen. In den entsprechenden Bereichen gilt daher auch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Insofern ist der Status Grossbritanniens nicht mit dem der Schweiz vergleichbar.
Brexit-Vertrag kein Vorbild für die Schweiz
In ihrem «Brevier» zum Rahmenabkommen schreiben Tobler und Beglinger, dass der britische Handelsvertrag «keine unionsrechtlichen Elemente enthält». Das heisst, für den Warenhandel zwischen der EU und Grossbritannien gilt kein EU-, sondern Welthandelsrecht («WTO-Recht»). Demnach spielt der EuGH künftig keine Rolle in Grossbritannien mehr, stattdessen werden mögliche Streitigkeiten durch ein Schiedsgericht beigelegt.
Auch hiesige EU-Kritiker fordern immer wieder die Streichung des EuGH aus dem Rahmenabkommen. Doch der Schweiz kann der neue Handelsvertrag Grossbritannien nicht als Vorbild dienen, sagen die beiden EU-Experten. Denn während das Vereinigte Königreich ganz aus dem Binnenmarkt austritt – das heisst, in Zukunft gibt es zwei Märkte mit unterschiedlichen Regeln –, will die Schweiz Teil des europäischen Marktes bleiben.
Der britische Handelspakt und das Rahmenabkommen mit der Schweiz (InstA) «unterscheiden sich deshalb von ihrem Inhalt her grundsätzlich». Bereits die bilateralen Verträge enthalten viel EU-Recht, damit die Schweiz am Binnenmarkt teilnehmen kann. Somit findet auch die Rechtssprechung des EuGH hierzulande teilweise und indirekt Anwendung.
Spielregeln der EU akzeptieren
Will die Schweiz den «privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt», das heisst den intensiven wirtschaftlichen Austausch mit der EU behalten, «so wird sie sich dem Verlangen der EU nach einheitlichen Spielregeln stellen müssen», schreiben Tobler und Beglinger.
Grossbritannien hat sich für einen anderen Weg entschieden: Trotz des Brexit-Abkommens werden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Grossbritannien und der EU künftig weit weniger eng sein als bisher. So werden an den Grenzen Warenkontrollen nötig, unter anderem, weil Nachweise für die Einhaltung der EU-Regeln zur Lebensmittelsicherheit und zur Einhaltung von Produktstandards erbracht werden müssen.
Während das Jahr 2020 im Verhältnis Schweiz-EU als verlorenes Jahr in die Geschichte eingehen dürfte, werden im kommenden Jahr wichtige europapolitische Weichen gestellt. 2021 wird sich zeigen, ob und unter welchen Bedingungen die Schweiz mit der EU ein institutionelles Rahmenabkommen abschliessen wird. Ausserdem dürfte der Brexit die innenpolitische Diskussion erneut anheizen.
Endlich, gegen Mitte November, gab der Bundesrat bekannt, dass er seine Position bei den drei offenen Punkten im Rahmenabkommen - den flankierenden Massnahmen, den staatlichen Beihilfen sowie der Unionsbürgerschaft - festgelegt habe. Viel zu spät jedoch, um im Jahr 2020 noch europapolitische Pflöcke einzuschlagen.
Mehrere Gründe dürften für das späte Agieren des Bundesrates verantwortlich sein: Da wäre zum einen das Coronavirus, das seit Ende Februar 2020 die Regierungen aller Länder vor sich hertreibt.
Wegen des Virus wurde zudem die Abstimmung über die Begrenzungsinitiative, der Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU, von Mai auf September verschoben, was dem beim Rahmenabkommen uneinigen Bundesrat sicherlich zugute kam.
EU wartet auf die Schweiz
2021 jedoch wird die Schweiz nicht darum herumkommen, mit der EU über die Präzisierungen der drei Punkte zu reden. Ansonsten dürften weitere Nadelstiche seitens der EU wie etwa bei der Börsenäquivalenz folgen.
Möglichkeiten böten sich jedenfalls genügend. Denn die Schweiz möchte mit der EU im kommenden Jahr über eine Assoziierung am EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe», dem Studentenaustauschprogramm «Erasmus plus» sowie am Kultur- und Medienprogramm «Kreatives Europa» verhandeln.
Ausserdem muss bis Ende Mai 2021 definitiv das Abkommen über technische Handelshemmnisse (MRA) aktualisiert sein, damit der Schweizer Medizinbranche keine Nachteile drohen.
Auswirkungen des Brexits
Das Jahr 2021 wird zudem zeigen, ob der EU-Austritt Grossbritanniens weiterhin einen grossen Einfluss auf die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU haben wird. Bis anhin nämlich stand die Schweiz «in Geiselhaft» des Brexits, wie einst eine EU-Diplomatin gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagte.
Das äusserte sich in einer harten Haltung der EU-Kommission gegenüber der Schweiz bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen. Grund dafür war die Furcht Brüssels, mit Zugeständnissen an Bern ein Präjudiz zu schaffen, auf das sich London bei seinen Verhandlungen mit der EU berufen könnte.
Doch diese «Gefahr» dürfte nun mit dem kurz vor Ablauf der Übergangsphase Ende dieses Jahres ausgehandelten Handelsabkommens zwischen dem Königreich und der EU gebannt sein - zumindest vorerst. Denn jetzt geht es in erster Linie um die Umsetzung des neuen Abkommens, bevor Brüssel und London wohl neue Verhandlungen aufnehmen werden.
Neue Diskussion über EuGH erwartet
In der Schweiz hingegen dürfte die Diskussion um den EU-Gerichtshof (EuGH) erneut aufflammen. Denn anders als im Rahmenabkommen spielt dieser beim Handelsabkommen zwischen Brüssel und London keine Rolle.
Das wird EU-Kritiker in der Schweiz jedoch nicht davon abhalten, die Streichung des EuGH im Rahmenabkommen zu fordern. Wird das nicht gelingen, könnten sie sich gegen das Abkommen stelle.
Hat der Bundesrat dereinst die Gespräche mit Brüssel abgeschlossen und das Rahmenabkommen zur Ratifizierung dem Parlament überwiesen, muss er seine Differenzen endlich überwinden und sich mit einer Stimme für den Rahmenvertrag aussprechen. Tut er das nicht, wird das Abkommen spätestens an der Urne versenkt. Dann aber stellt sich die Frage, ob es nicht ehrlicher gewesen wäre, das Abkommen erst gar nicht abzuschliessen.
(sda/mlo)
1 Kommentar
Die EU-Befürworter, d.h. die Linken wollten zum Teufel komm raus den Rahmenvertrag abschliessen, jetzt haben wir das Dilemma. Kein vernünftiger Schweizerbürger wir dem an der Urne zustimmen.