Amerika solle ein «Leuchtturm für die Welt» sein und mit Vorbild statt mit Macht führen, sagte Joe Biden in seiner Siegesrede. Der neu gewählte Präsident der USA läutet damit das Ende der Ära Trump ein, in der sich Amerikas Verhältnis zur Welt grundlegend verändert hatte.

In Europa sind die Hoffnungen nun gross, dass sich der demokratische Präsident wieder stärker dem alten Kontinent zuwenden wird. Einen freundlicheren Ton als sein Amtsvorgänger wird Biden gegenüber den Europäern allemal angeschlagen – doch vorerst wird er sich um die Probleme in den USA kümmern müssen. Denn dort herrscht wie in Europa die grösste Gesundheits- und Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten.

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«America first»

Zunächst wird Joe Biden die Corona-Pandemie in den Griff und die amerikanische Wirtschaft wieder auf die Beine bekommen müssen. Er plant ein Hilfspaket für die Wirtschaft, allerdings werden dem Präsidenten die Hände gebunden sein werden, denn die Republikaner sind auch nach der Wahl weiterhin stark im US-Kongress vertreten. Letztlich könnte die Notenbank Federal Reserve mit ihrer Geldpolitik bei der Ankurbelung der Wirtschaft eine weit grössere Rolle spielen als der neue Präsident. 

Zwar hat sich die Wirtschaft seit der ersten Corona-Welle etwas erholt – beziehungsweise der Einbruch fällt nicht ganz so schlimm aus wie befürchtet. Doch noch immer sind 11 Millionen Menschen ohne Arbeit. Und in den nächsten Monaten könnte sich die Pandemie wieder verschärfen und weitere Einschränkungen erforderlich machen, welche die Wirtschaft wieder abwürgen.

Bevor sich Biden also der Welt zuwendet, hat die heimische Wirtschaft Priorität: Trumps «America First»-Politik wird daher nicht über Nacht enden. 

Internationale Zusammenarbeit

Joe Biden steht für multilaterale Zusammenarbeit. So hatte er im Wahlkampf angekündigt, am ersten Tag seiner Präsidentschaft dem Pariser Klimaschutzabkommen wieder beizutreten. Beim Thema Klimaschutz könnte Präsident Biden auf die Zusammenarbeit mit der EU setzen sowie die traditionelle Partnerschaft zwischen den USA und Westeuropa wiederbeleben.

Auch Organisationen wie der WHO dürfte der neue Präsident erneut beitreten, nachdem Donald Trump die Mitgliedschaft aufgekündigt hatte. Ferner dürfte der neue die Welthandelsorganisation (WTO) wieder stärken.

Handelspolitik

Ebenso wie die Aussenpolitik basiert auch Joe Bidens Handelspolitik auf Multilateralismus. Eine dramatische Wende ist allerdings nicht zu erwarten, vor allen nicht im Hinblick auf China. Vor der Wahl sagte der Kandidat, die Strafzölle auf Importe aus China hätten der US-Wirtschaft geschadet. Er dürfte sie zumindest langfristig wieder zurücknehmen.

Joe Biden wird zwar nicht so offensichtlich feindlich gegenüber China auftreten wie Trump. Doch auch der neue Präsident dürfte die amerikanische Wirtschaft bis zu einem gewissen Grad schützen wollen, eine harte Linie gegenüber Chinas staatlich subventionierten Firmen fahren und auf eine Reform der WTO drängen.

Ebenso wird Biden auch die Handelsbeziehungen zur EU entspannen, nachdem Trump Europa zum Gegner erklärt und Strafzölle auf Aluminium und Stahl verhängt hatte. Über Nacht dürfte dies jedoch nicht geschehen. Zwar wird erwartet, dass ein Handelsabkommen zwischen den USA und der EU unter dem Neuen in Washington einfacher zu besiegeln wäre.

Dennoch: Am transatlantischen Handelsbilanzüberschuss der EU von 170 Milliarden Dollar dürfte sich auch ein Präsident Biden stören. Weitere Streitpunkte sind die in einigen europäischen Ländern geplante Digitalsteuer für Tech-Konzerne sowie der langjährige Streit zwischen der EU und den USA über die Subventionen für Airbus und Boeing sein.

Letztlich wird es auf die EU selbst ankommen, ob sie den amerikanischen Kurs, Chinas Einfluss in Schach zu halten, mitmacht oder nicht. Und dies dürfte sich auf das transatlantische Verhältnis auswirken. Dass die US-Wirtschaft wichtiger für Biden ist als neue Handelsabkommen, hatte der Kandidat der Demokraten kurz vor seiner Wahl nochmals betont.

Brexit

Mit Donald Trump verliert der britische Premier Boris Johnson einen Brexit-Verbündeten. Nur Wochen vor dem Ende der Übergangsphase haben sich Grossbritannien und die EU immer noch nicht auf ein Abkommen geeinigt: Ein No-Deal-Brexit könnte das Verhältnis zur neuen amerikanischen Regierung gefährden, befürchten nun britische Politiker.

Denn Joe Biden ist ausdrücklich gegen den Brexit, er ist ein Befürworter der Europäischen Union und des irischen Friedensabkommens, welches beim ungeregelten EU-Austritt auf dem Spiel steht. Wenn Grossbritannien sich mit der EU nicht einigt, werde es auch kein Handelsabkommen mit den USA geben, sagte Biden, der irische Wurzeln hat. Das Handelsabkommen mit der EU könnte für den Demokraten ohnehin wichtiger sein als mit dem traditionell eng verbündeten Grossbritannien. 

Transatlantischer Neuanfang

Nach vier Jahren des EU-Gegners und Brexit-Befürworters Trump setzt die EU grosse Hoffnung auf den neuen Mann im Weissen Haus. Er weiss, dass nur eine starke EU den USA nutzt – auch im Kampf gegen den Klimawandel.

Mit einer ganz schnellen Umkehrung der «America First»-Politik ist jedoch mit Joe Biden nicht zu rechnen. Denn auch er hatte zuletzt eine «Buy American»-Strategie angekündigt. Die USA dürften sich daher auf absehbare Zeit erst einmal mit sich selbst beschäftigen – nicht zuletzt wegen des tiefen Spalts in der amerikanischen Gesellschaft nach vier Jahren Trump – den der designierte Präsident nun «heilen» will.

Letztendlich wird es nicht nur auf den neuen mächtigsten Mann der Welt ankommen, sondern auch auf Europa selbst, was es aus dieser Chance macht.