Demenzkranke im Ausland betreuen lassen – geht das? Manche nennen das abfällig «Export von Pflegebedürftigen». Im Dorf Faham in Thailand sieht das anders aus. Aber die Alzheimer-Gesellschaft ist skeptisch.
«In guten wie in schlechten Zeiten»: Nach mehr als 40 Jahren Ehe stand es für die Schweizerin Christine Sugasi ausser Frage, dass sie sich selbst um ihren Mann kümmern würde, als der eine Alzheimer-Diagnose erhielt. «Ich bin früher in Rente gegangen, und anfangs ging es, aber nicht lange», berichtet die Frau aus Lausanne.
In Thailand glücklich
Ihr Mann hatte extreme Stimmungsschwankungen, wurde unberechenbar. Sie schaute sich Heime an. «Aber es war für mich undenkbar, dass er weggeschlossen wird». Ihr Mann, der die Natur so liebte. Seit Dezember 2014 lebt er im Dörfchen Faham 20 Kilometer nördlich von Chiang Mai in Nordthailand und ist die meiste Zeit des Tages an der frischen Luft. «Er sieht glücklich aus», sagt Sugasi.
Ihr 77-jähriger Mann ist Gast bei Martin Woodtli. Der Sozialarbeiter aus der Schweiz hat mit Kamlangchay eine Einrichtung für gut ein Dutzend Langzeitgäste in verschiedenen Demenzstadien geschaffen, die er mit mehr als 40 Mitarbeitern betreut.
Bezahlbare Rundumbetreuung
Er startete vor zwölf Jahren, nachdem er mit seiner eigenen demenzkranken Mutter nach Thailand ausgewandert war. Er kannte das Land von einem früheren Arbeitsaufenthalt und fand die Betreuung für seine Mutter sehr gut.
Jeder Alzheimer-Patient hat drei persönliche Betreuerinnen und damit rund um die Uhr jemanden an seiner Seite. In Thailand ist das bezahlbar. Die Frauen – und ein paar Männer – haben eine mehrmonatige Ausbildung als Pflegehelfer, aber vor allem viel Geduld. Spazierengehen, Schwimmen, Ballspielen, in den Arm nehmen – sie machen, was dem Gast gefällt.
Skepsis der Experten
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft betrachtet Betreuungsmodelle im Ausland mit gemischten Gefühlen, sagt Mitarbeiterin Susanna Saxl. Je nach Stadium der Demenz könne es in Einzelfällen funktionieren. Aber für viele Menschen dürften die fremde Umgebung, die Sprache und das Fehlen der Familie problematisch sein.
«Die Angehörigen sind ein so wichtiger Faktor für Demenzkranke», sagt sie. «Auch, wenn sie nicht mehr sprechen, sie haben ein gutes Gespür dafür, wie ihnen Menschen gegenübertreten, wie viel Nähe da ist.»
Auf Kranke eingehen
Weil Sugasis Mann meist vornübergebeugt sitzt und nach unten blickt, zieht seine Betreuerin Bennie ein winziges Stühlchen heran und setzt sich, um möglichst in seinem Blickfeld zu sein. Sie spricht englisch, wie Christines Mann. «Sehr nett, Sie kennenzulernen», sagt er zu ihr.
«Er kann auch sehr aufgebracht sein, dann sieht er sich auf seiner alten Arbeitsstelle und will nicht gestört werden», sagt Bennie. «Wir lassen ihn dann, nach ein paar Minuten ist wieder alles gut.»
Welt-Alzheimer-Tag
Fast 47 Millionen Menschen weltweit leben mit Demenz, schreibt der Dachverband der Alzheimer-Gesellschaften im Welt-Alzheimer-Bericht 2015. Mit wachsender Lebenserwartung steigen die Zahlen rasant: In 20 Jahren seien es wohl fast doppelt so viele.
Das Thema betrifft immer mehr Menschen. Am 21. September ist Welt-Alzheimer-Tag, dann wird in vielen Städten unter dem Motto «Jung und Alt bewegt Demenz» über die Erkrankung informiert. Auch über Betreuungsmöglichkeiten für Kranke.
Zwei Wochen Besuch pro Jahr
Marco und Pascal Kühnis wussten vor fünf Jahren, dass ihr Vater, damals gerade 56, nicht mehr lange allein leben können wird. Er hatte eine Alzheimer-Diagnose bekommen.
Sie suchten in der Nähe von Zürich ein Heim und wollten ihm vorher noch einmal Ferien gönnen. In Thailand. So kamen sie auf Woodtli. Ihr Vater war drei Wochen dort und wollte dann gar nicht wieder weg. «Zuhause sass er nur noch rum, wollte kaum raus, aber hier ist er richtig aufgeblüht», sagt Pascal.
Als sie zurück in der Schweiz waren, entschieden sie: Vater geht nach Thailand. Inzwischen sind sie begeistert von der Pflege in dem Land. «Die Distanz tut natürlich weh», sagt Marco. «Aber wir kommen einmal im Jahr, und dann sind wir zwei Wochen hier, das ist intensiver als würden wir den Vater einmal die Woche kurz in einem Heim in der Schweiz besuchen.»
Abwechslungsreiches Programm
«Export von Pflegebedürftigen» sagen böse Zungen. Woodtli erlebt aber keine Abschiebementalität. «Die Angehörigen sind höchst engagiert.» Viele skypen mit den Gästen und kommen regelmässig zu Besuch. Sugasi ist nach Chiang Mai gezogen, um näher bei ihrem Mann zu sein.
Woodtlis Patienten leben jeweils zu zweit in einem kleinen Haus im Dorf. Jeder hat sein eigenes Zimmer. Es gibt Massagen, Ausflüge zum Zoo, ins Restaurant, und täglich frisches Tropenobst am Swimming Pool.
Keine kulturellen Probleme
Seine Gäste fühlten sich nicht entwurzelt, ist Woodtli überzeugt. Sie übertrügen Erinnerungen einfach nach Faham. «Meine Mutter zeigte hier immer auf ein Haus und sagte, dort sei sie zur Schule gegangen.»
Die Leute bewegen sich frei im Dorf, immer mit der Betreuerin an der Seite. Die 2000 Einwohner von Faham haben nichts gegen die Demenzkranken. «Hier denken alle, es gehört zum Altwerden, dass man vergesslich oder ein bisschen wunderlich wird», sagt Bennie. Vor Alten habe man stets Respekt.
«Wir sind wie eine Grossfamilie, die Gäste werden getragen vom Dorf», sagt Woodtli. «Viele Demenzkranke sind aggressiv. Wenn sie ruhelos sind und laufen wollen und man ihren Raum begrenzt, wird's schwierig. Aber hier kann die Betreuerin mit dem Gast fortgehen. Insgesamt haben wir kaum Probleme mit Aggressionen, die Leute fühlen sich geborgen.»
(sda/jfr)