Um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen, hat der Bundesrat insbesondere Mitte März einschneidende Massnahmen erlassen. Wir alle versuchen, uns bestmöglich an die Vorgaben zu halten und das beste aus der Situation zu machen.
Der volkswirtschaftliche Schaden ist indes immens und wächst mit jedem Tag. Es stellen sich zwei Fragen: Ist eine Lockerung der Einschränkungen bereits angezeigt, und wenn ja, in welche Richtung könnte diese zielen?
Was uns die Fallzahlen sagen
Zur ersten Frage sind die Zahlen der Website corona-data.ch nützlich, welche die verfügbaren Daten auf Ebene der Kantone bereitstellt und die Quellen im Einzelnen dokumentiert.
Die Zahlen sind nicht ganz vollständig, z.B. fehlen Spitaldaten aus dem Kanton Baselland. Gleichwohl geben sie einen guten und aktuellen Überblick. Der Blick auf den Verlauf der Fallzahlen zeigt:
► Die von den Kantonen gemeldeten Fallzahlen sind bis am 20. März grob einem exponentiellen Verlauf gefolgt (gepunktete Linie in der Abbildung). Seither liegen die täglichen Neumeldungen (schwarze Kurve) unter diesem Niveau mit tendenziell linearem Verlauf (effektiv wohl gar rückläufig, da laufend mehr getestet wird und so die Dunkelziffer sinkt).
Der Trendbruch ist eine gute Nachricht. Er lässt sich mit den Massnahmen des Bundesrates erklären, welche sich verzögert um die Inkubationszeit des Virus in den Statistiken niederschlagen: Gemäss BAG liegt die Inkubationszeit bei «meist fünf Tagen», was gut zum Peak der Neuansteckungen am 20. März passt. Die Massnahmen des Bundesrates waren also wirksam bezogen auf die Verbreitung des Virus.
► Der Peak der Corona-bedingten Zunahme der Bettenbelegung in Spitälern wurde bereits am 26. März verzeichnet (graue Säulen), während die meisten Entlassungen bislang am 31. März gemeldet wurden (blaue Säulen). Dies deckt sich mit der in Deutschland vermeldeten durchschnittlichen Verweildauer in Spitälern zwischen 3,5 und 7 Tagen je nach Schwere des Fallverlaufs.
► Die Bettenbelegung in den Spitälern (rote Kurve) ist seit einigen Tagen konstant. Das gleiche gilt für die Anzahl der Patienten, die einer Beatmung bedürfen (orange Kurve). Da die Kapazität in den Spitälern weiterhin ausgebaut wird, dürfte diese bei gleichbleibenden Massnahmen des Bundesrates absehbar nicht ausgeschöpft werden. Diese Feststellung wird untermauert dadurch, dass seit einigen Tagen auch Patienten aus dem benachbarten Ausland eingeflogen werden.
Lockerungen: «Ja, aber»
Ist eine Lockerung der Massnahmen des Bundesrats also angezeigt?
Wenn es primär darum geht, dass die Spitäler alle COVID-19 Patienten sachgerecht behandeln können, bieten sich punktuelle, gezielte Lockerungen an, welche Menschen und Wirtschaft mehr Raum lassen und somit den gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Schaden begrenzen, ohne dabei Menschenleben zu gefährden.
Die bisherige Entwicklung der Fallzahlen und die Inkubationszeit des Virus legen nahe, dass sich geänderte Regeln nach grob fünf Tagen in den gemeldeten Neuansteckungen niederschlagen. Die Neuansteckungen können ihrerseits als Proxy zur Abschätzung der hieraus induzierten Spitaleintritte genutzt werden.
Urs Trinkner ist Geschäftsführer von Swiss Economics und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich.
Konkret könnte der Bundesrat ab sofort im Wochenrhythmus schrittweise Lockerungen am geltenden Notregime beschliessen und Verschärfungen jederzeit umsetzen, so die Neuansteckungen einen zu bestimmenden Schwellenwert übertreffen sollten. Der Schwellenwert würde abhängig von der Kapazität der Spitäler und der Anzahl durchgeführter Tests festgesetzt.
Für die Anpassungen am Notregime stehen gezielte Massnahmen im Vordergrund, welche zum einen die Wirtschaftskreisläufe wieder in Gang bringen und zum anderen die besonders gefährdeten Bevölkerungsschichten keinem für sie untragbaren Risiko aussetzen. Konkret könnte als erster Schritt Folgendes geprüft werden:
► Erlaubnis für Läden, wieder zu öffnen, sofern sie die Vorschriften des BAG einhalten (z.B. Sicherstellen der Abstandsregeln, Plexiglasscheiben für Mitarbeitende an Kassen, Bereithalten von Desinfektionsmitteln, ggf. Maskenplicht, usw.).
► Flankiert würden die Lockerungen durch die Einführung eines Rechts für alle, zuhause zu bleiben. Wer das Risiko einer Ansteckung als zu hoch beurteilt, darf weiterhin zuhause bleiben. Dieses Recht gilt gleichermassen für alle Arbeitnehmenden, Schüler und Eltern für die Dauer der Pandemie. Das Recht würde einen Kündigungsschutz mit einschliessen und könnte schrittweise auf besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen reduziert werden, deren Immunität sich nicht nachweisen lässt.
Wird gleichzeitig ein Contact-Tracing in der nötigen Kapazität aufgebaut und konsequent umgesetzt, könnten die Lockerungen umso umfassender ausfallen und eine Rückkehr zur Normalität schneller erfolgen.