Nach der Wartung von Nord Stream 1 ist am Donnerstagmorgen die Gaslieferung wieder angelaufen. Schon zuvor hatte der deutsche Nachrichtensender ntv geschrieben, das die Daten des Netzbetreibers Gascade auf eine Wiederaufnahme der Lieferungen hindeuteten.

Gascade betreibt die beiden Empfangspunkte von Nord Stream 1 im vorpommerschen Lubmin (D). Für beide Punkte waren laut Gascade-Website Gaslieferungen vorgemerkt.

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Normalerweise liefert Nord Stream 1 rund einen Drittel des Erdgases der Europäischen Union. Doch zuletzt gab es Befürchtungen, dass Nord Stream 1 angesichts der Feindseligkeiten zwischen Russland und dem Westen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg nicht wiedereröffnet werden würde, nachdem die Pipeline vor kurzem wegen Unterhaltsarbeiten ausser Betrieb genommen wurde.

Ein Sprecher der Nord Stream AG sagt, dass 67 Millionen Kubikmeter pro Tag durch die Pipeline fliessen werden, so viel wie vor der Wartung angekündigt. Das entspricht etwa 40 Prozent der maximalen Kapazität.

Die Liefermengen könnten freilich auch wieder ändern. Das ist aber keine technische Frage, wie Putin und der russische Staatskonzern Gazprom das mit Wartungsarbeiten und notwendigen Ersatzteilen vorgeben, sondern eine politische Entscheidung.

Energie als Waffe

Deshalb bereitet sich die EU darauf vor, dass früher oder später und jederzeit Putin den Gashahn komplett zudrehen könnte. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hält eine vollständige Unterbrechung der russischen Gaslieferungen nach Europa mittlerweile für «ein wahrscheinliches Szenario» und spricht offiziell von Erpressung seitens Russlands, «Energie als Waffe» einzusetzen.

Die deutsche Regierung ruft deshalb die Bevölkerung zum freiwilligen Energiesparen im Ausmass von 15 Prozent im Vergleich zu den Jahren davor auf. Auf den Stromverbrauch bezogen wäre das in der Schweiz die erste Stufe des Notfallplans, den das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) über die Exekutiv-Organisation Ostral – und per Verordnung durch den Bundesrat – umsetzen würde.

Wenn die Schweizer Gasreserven, die in Frankreich lagern, bis zum Winter nicht ausreichend aufgefüllt werden können, dann kommen ähnliche Massnahmen auch hierzulande.

Dass ein völliger Gaslieferstopp von Russland nach Europa nicht unwahrscheinlich ist, zeigt die Chronologie der Ereignisse: Bereits Mitte Juni hat Putin die Gaslieferungen nach Europa um bis zu 60 Prozent gedrosselt. Wohl wissend, dass dies gegen den Westen wirkt, der die Ukraine mit Waffen zur Verteidigung gegen Russland beliefert. Nach dem Motto: Wenn ihr die Ukraine mit Waffen versorgt, dann setzen wir Gas als Waffe gegen euch ein.

Putins Spielchen

Nach den erfolgten Drosselungen dann die nächste Bombe: Der russische Staatskonzern Gazprom müsse wegen Wartungsarbeiten die Gaslieferkapazitäten reduzieren. Ausserdem müsse eine Turbine, welche sich zur Wartung in Kanada befinde, zuerst an Russland zurückgeliefert werden, damit die Gasförderung wiederaufgenommen werden könne.

Siemens kümmerte sich um die Wartung der Turbine in Kanada. Doch Kanada hat eigene Sanktionen gegen Russland in Kraft, welche die Lieferung von technischem Gerät wie einer Gasturbine untersagen.

Zusätzlich lebt in Kanada die grösste ukrainische Diaspora-Gemeinde, welche die Lieferung unterbinden wollte und Druck auf die Lokalpolitiker ausübte. Einzelne Politiker, die zur Wiederwahl antreten, müssen mit dem Verlust von Wählerstimmen rechnen. Kanada hatte aufgrund dieser Gemengelage bis vor wenigen Tagen noch gezögert, die gewartete Turbine freizugeben.

Daraufhin hatte die EU auf Kanada Druck gemacht, die Turbine an Russland zu liefern. Mit dem Argument, dass Gaslieferungen nach Europa vom EU-Sanktionspaket nicht erfasst wären. Und die Gasturbine, welche den Gasfluss wieder ermöglichen solle, sei Teil dieser Ausnahmeregelung.

Europa vor der Zerreissprobe

Kanada gab nach, die Turbine wurde geliefert. Doch Putin sitzt am längeren Hebel: Ganz Europa hängt nach wie vor am Tropf russischer Gaslieferungen. Und was die Geschichte noch zeigt: Wenn in den westlichen Demokratien Partikularinteressen berührt werden, dann bröckelt der Zusammenhalt. Kein Land kann sich mit Sicherheit darauf verlassen, dass Gaslieferverträge in Mangelzeiten weiterhin erfüllt werden, wenn die eigene Bevölkerung darunter leidet.