Nach der Abstimmung für den EU-Austritt Grossbritanniens gehen Brexit-Gegner auf die Barrikaden. Mit allen Mitteln versuchen sie, den Entscheid rückgängig zu machen. Schottland droht bereits mit dem Austritt aus dem Vereinigten Königreich – und das noch vor Ablauf der Zwei-Jahres-Frist, in der sich Grossbritannien mit der EU über die Austrittsbedingungen einigen soll.

Doch welche Optionen gibt es überhaupt noch, das offizielle Votum zum EU-Austritt zu revidieren? Und wird Grossbritannien nach dem Brexit eher ein Klein-Britannien? Eine Evaluierung von zehn Szenarien, die nach der Brexit-Abstimmung möglich sind.

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1. Wiederholung des Referendums

Eine Rekordzahl von Briten hat gefordert, die Abstimmung über den Brexit zu wiederholen. Über 3.7 Millionen Einwohner haben eine entsprechende Petition auf der Website des britischen Parlaments unterschrieben – das entspricht bei gut 46 Millionen registrierten Wählern fast jedem zehnten. Die Vorlage besagt, eine Abstimmung solle wiederholt werden, wenn bei einer Wahlbeteiligung von bis zu 75 Prozent keine Seite mindestens 60 Prozent der Stimmen erreicht. Dies wäre beim Brexit-Votum der Fall. Hier hatten sich 51,9 Prozent der Briten für den EU-Austritt ausgesprochen.

Die Chancen, dass es tatsächlich zu einer zweiten Volksbefragung kommt, sind jedoch gering, sagte der Wahlforscher John Curtice der britischen Nachrichtenagentur PA. Auch, weil das Gesuch ans Parlament aus der Zeit vor dem Referendum stammt. Dennoch muss das Parlament über die eingereichte Petition debattieren, da die benötigten 100'000 Unterschriften vorliegen. Grundsätzlich müssten jedoch schwerwiegende Gründe vorliegen, damit das Parlament gegen den Willen von 17,4 Millionen Brexit-Befürwortern erneut ein Votum ansetzt.

2. Brexit mit parlamentarischer Abstimmung stoppen

Ein Abgeordneter der Labour-Partei will den Brexit derweil direkt mit einer Abstimmung im britischen Unterhaus verhindern. «Wacht auf. Wir müssen das nicht machen», schrieb David Lemmy aus dem Wahlkreis Tottenham am Samstag auf Twitter. «Wir können diesen Wahnsinn stoppen und diesen Alptraum mit einem Votum im Parlament beenden.» Schliesslich sei das Referendum rechtlich nicht bindend, so Lemmy. Der Politiker forderte eine Abstimmung schon in der kommenden Woche.

Tatsächlich kann in Grossbritannien nur das Parlament über den endgültigen Brexit entscheiden. Dies wäre Experten zufolge aber ein krasser Schritt gegen den Volkswillen. Das Parlament müsste sich genau überlegen, ob es diesen Schritt gehen will.

3. Schottland könnte Veto einlegen

Weiter besteht die Möglichkeit eines Vetos: Schottland zumindest erwägt die Blockade des britischen EU-Ausstiegs. Sollte sich herausstellen, dass dies zur Sicherung schottischer Interessen notwendig sei, werde sie diesen Weg gehen, sagte die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon, am Sonntag der BBC. Dazu gehöre im Zweifel auch, dem schottischen Parlament eine Blockade der erforderlichen Brexit-Gesetzgebung zu empfehlen.

Die Schotten hatten sich bei der Abstimmung mit 62 Prozent gegen den Brexit ausgesprochen. Ein Veto, also ein «Nein» des schottischen Parlaments gegen den Brexit hätte Gewicht. Die komplexen Vereinbarungen zur Macht-Aufteilung in Grossbritannien beinhalten, dass die Regionalregierungn in Schottland, Wales und Nordirland Entscheidungen aus London wie einen EU-Austritt mittragen müssten.

4. Unabhängigkeitsreferendum für Schottland

Sollte ein Veto nicht greifen, könnte Schottland das Volk auch erneut über die Unabhängigkeit von Grossbritannien abstimmen lassen. Dann könnte Schottland in der EU bleiben. Die schottische Regierungschefin Sturgeon sagte, es sei «sehr wahrscheinlich», dass es zu einem solchen zweiten Referendum komme. In der ersten Abstimmung 2014 hatten 55 Prozent Schotten gegen eine Loslösung von Grossbritannien gestimmt. Jüngste Umfragen weisen jedoch auf einen Stimmungswechsel hin.

Schottlands Chancen, in die EU aufgenommen zu werden stehen dabei nicht schlecht: «Einen Aufnahmeantrag des EU-freundlichen Landes sollten wir schnell beantworten», sagte der Vorsitzende des Ausschusses für EU-Angelegenheiten im deutschen Bundestag der «Welt am Sonntag».

5. Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland?

Wie auch Schottland hat Nordirland - wenn auch knapper - gegen den Brexit gestimmt. Auch hier wurde nach dem Brexit-Votum eine Option auf den Tisch gebracht, die lange als undenkbar galt: Der stellvertretende Regierungschef Nordirlands, Martin McGuiness, von der pro-irischen Partei Sinn Fein warb für eine Vereinigung mit Irland. Da die Republik Teil der EU ist, könnte Nordirland so an seiner EU-Mitgliedschaft festhalten.

Der Ausgang des Brexit-Referendums gebe den Bestrebungen für ein vereinigtes Irland neuen Auftrieb, sagte Parteichef Declan Kearney. Regierungschefin Arlene Foster erteilte den Bestrebungen derweil schnell eine Absage: Ein Referendum für ein vereinigtes Irland wäre niemals erfolgreich, sagte sie. Auch ohne Abspaltung bleibt die Frage, wie das fragile Verhältnis von Nordirland und Irland nach einem EU-Austritt Grossbritanniens gestaltet würde: Würden Irland und Nordirland durch eine physische Grenze getrennt?

6. Prozess herauszögern

Eine weitere Option wäre, dass Grossbritannien den Austritt aus der EU herauszögert. Diese Möglichkeit brachte jüngst ein hoher EU-Diplomat ins Gespräch. «Ich würde nicht ausschliessen, und das ist meine persönliche Überzeugung, dass sie es vielleicht nie tun werden», sagte er anonymerweise der Nachrichtenagentur AFP. Damit meint er die Absichtserklärung, die Grossbritannien nach Artikel 50 im EU-Vertrag einreichen muss, damit über die Bedingungen eines EU-Austritts überhaupt diskutiert werden kann. Bis jetzt hat London noch keine solche Erklärung eingereicht - und könnte dies auch noch weiter hinauszögern.

Nach einer solchen Taktik klang auch die Aussage vom britischen Finanzminister George Osborne: Er sagte am Montag vor Öffnung der Londoner Börse, die britische Regierung könne das Verfahren gemäss Artikel 50 des EU-Vertrags erst auslösen, wenn sie dazu bereit sei und «klare Vorstellungen» über den weiteren Weg habe. «Meiner Meinung nach sollten wir das erst tun, wenn wir eine klare Vorstellung von den neuen Regelungen haben, um die wir uns mit unseren europäischen Nachbarn bemühen.»

7. Neues Referendum über Austrittsbedingungen

Wird die Austrittserklärung gemacht, muss sich Grossbritannien mit der EU über die Einzelheiten des Austritts einigen. Für diese Verhandlungen legt Artikel 50 einen Zeitraum von zwei Jahren fest - die Frist kann aber verlängert werden. Auch hier besteht noch die Möglichkeit, den Brexit abzuwenden.

«Es könnte sein, dass nachdem die Vertragsbedingungen eines EU-Austritts verhandelt worden sind, erneut ein Referendum über diese Bedingungen stattfindet», sagte EU-Experte Josef Janning zuletzt im Interview mit Handelszeitung.ch. «Darüber, ob das wirklich die Bedingungen sind, zu denen die Briten aus der EU ausscheiden wollen.» Dass eine solche Bewegung für ein neues Referendum ins Rollen komme hält Janning für vorstellbar. Eine Chance, den Brexit gänzlich rückgängig zu machen, sieht er in dieser Option aber nicht.

8. Petition fordert Unabhängigkeit Londons

Eine letzte Möglichkeit, in der EU zu bleiben, gleicht eher einem Gedankenexperiment. Der britische Fachautor James O'Malley hat auf der Plattform Change.org eine Petition für den Austritt Londons aus dem Vereinigten Königreich eingereicht. Darin ruft er Londons neuen Bürgermeister Sadiq Khan dazu auf, Grossbritannien zu verlassen und sich für einen EU-Beitritt zu bewerben. Die Aktion läuft unter dem Hashtag #londependence.

In städtischen Wahlkreisen Londons hatten teils bis zu 79 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt. Die Abstimmung zeigte damit die Stadt-Land-Schere deutlich auf. Er habe die Petition eigentlich nur als Scherz eingereicht, sagte O'Malley. Dass mittlerweile über 173'000 Nutzer unterschrieben haben, ist laut O'Malley aber ein Zeichen dafür, dass die Bewegung Ausgangspunkt für eine wichtige Diskussion darstellt.

9. Alles nach Plan

Einiges deutet darauf hin, dass der Brexit wie beschlossen vonstatten geht: Die britische Regierung soll bereits mit den Vorbereitungen für den Austritt aus der Europäischen Union beginnen. Dies sei der Willen von Premierminister David Cameron, sagte seine Sprecherin am Montag. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz fordert, dass Cameron bereits beim EU-Gipfel am Dienstag die übrigen Staats- und Regierungschefs über die Aktivierung von Artikel 50 informiert.

Viele EU-Staaten äusserten derweil Verständnis für die komplizierte Situation Camerons und erwarten nicht, dass der Brite den Artikel 50 bereits jetzt auslöst. Zögert Cameron die Austrittserklärung bis zu seinem angekündigten Rücktritt im Oktober hinaus, müsste sein gewählter Nachfolger um diese Erklärung und die Verhandlungen mit der EU kümmern. Für diese wäre dann - wie oben beschrieben - zwei Jahre Zeit (ohne Verlängerung der Frist).

10. «Brentry» oder «Dirty Brexit»

Eine künftige britische Regierung kann auch nach einem Brexit entscheiden, der EU wieder beitreten zu wollen. Ein solcher «Brentry» würde allerdings sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, und die Briten hätten keine Garantie, dass sie erneut Sonderregeln wie die Nicht-Zugehörigkeit zum Schengen-Raum oder die Beibehaltung des Pfund Sterling herausschlagen könnten.

Umgekehrt könnte eine neue britische Regierung auch einfach die Tür hinter sich zuschlagen und auf Austrittsverhandlungen ganz verzichten. Ein derartiger «Dirty Brexit» würde aber wohl die Glaubwürdigkeit des Königreichs in internationalen Verträgen beschädigen.