Die Entwicklung der Künstliche Intelligenz (KI) ist von vollmundigen Versprechungen und hohen Erwartungen begleitet. Von exponentiellen Produktivitätssteigerungen in der Software-Entwicklung oder im Marketing ist die Rede, auch von neuen Dimensionen in der medizinischen Diagnose. Selbst den Klimawandel sollen die neuen KI-Technologien bewältigen helfen. Definitiv durch die Decke schossen die Erwartungen nach der Einführung des grossen Sprachmodells ChatGPT Ende 2022. Einiges scheint darauf hinzudeuten, dass wir uns dem «Gipfel der überzogenen Erwartungen» im Gartner-Hype-Zyklus nähern oder ihn bereits erreicht haben. In diesem Hypezyklus folgt auf den Gipfel ein steiler Abstieg ins «Tal der Enttäuschungen», um dann durch realistische Einschätzung und besseres Verständnis der Technologie («Pfad der Erleuchtung») allmählich allgemein anerkannt und genutzt zu werden.

Führungskräfte geben Gas

Doch der Schein trügt. Gartner selbst ist mittlerweile der Meinung, dass sich die generative KI nicht nach dem bisherigen Zyklus entwickeln wird. Wir befinden uns zwar im Abschwung, aber zu einem Tiefpunkt der Desillusionierung werde es nicht kommen. Die grosse Enttäuschung und Ernüchterung bleibt also aus. Für diese Einschätzung sprechen mehrere Entwicklungen. In einer aktuellen Umfrage von Qualtrics unter gut 17'000 Führungskräften und Büroangestellten in 15 Ländern, darunter auch die Schweiz, geben satte 99 Prozent der Führungskräfte an, noch in diesem Jahr in KI investieren zu wollen. Ebenfalls beeindruckende 97 Prozent halten es für unerlässlich, KI in ihre Geschäftsprozesse einzubeziehen.

Aber Führungskräfte reden nicht nur von KI, sondern haben veranlasst, dass sie in ihrem Business auch eingesetzt wird. Tatsächlich wird 2024 als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem künstliche Intelligenz in den Unternehmen angekommen ist. In der überwiegenden Mehrheit nutzen sie KI-Funktionen, die in ein Produkt integriert sind.  Solche Funktionen stehen in Anwendungen für verschiedene Geschäftsbereiche – etwa im Personalwesen, in der Supply Chain oder im Finanzwesen – bereit und haben der integrierten Business-KI einen veritablen Schub verliehen. Auch in der Schweiz. 

Sensirion automatisiert Prüfung von Konformitätszertifikaten

So etwa bei Sensirion aus dem zürcherischen Stäfa. Der weltweit führende Entwickler und Hersteller von Sensoren und Sensorlösungen setzt bei der Überprüfung und Validierung der so genannten Konformitätszertifikate auf KI. Als Dokument bezeugen diese Zertifikate, dass und wie sich eine bestimmte Ware zu anerkannten Normen verhält und dienen dazu, die Zulassung der Ware auf internationalen Märkten zu erleichtern. Die Konformitätszertifikaten von Lieferungen, die bei Sensirion eingehen, werden manuell überprüft,die Daten anschliessend ebenso händisch ins ERP-System eingegeben. Diese Tätigkeit ist nicht nur repetitiv, sondern auch zeitintensiv. Das hindert die für das Qualitätsmanagement zuständige Abteilung daran, sich mit wichtigeren Geschäftsaufgaben zu befassen.

Mit Hilfe der KI-Funktionen, welche die Business-Technologieplattform (BTP) von SAP bereitstellt, ist es den Sensirion-Leuten im Rahmen eines SAP Hackathons gelungen, eine durchgängige End-to-End-Lösung zu entwickeln und den Prozess vollständig zu automatisieren. Eingehende Konformitätszertifikate (PDFs) werden in E-Mails automatisch erkannt und zur Auswertung, Prüfung und Informationsextraktion an einen BTP-Service gesendet. Anschliessend werden sie dem Einkaufsdokument im ERP-System hinzugefügt, wo sie mit der tatsächlichen Lieferung und dem Prüflos erneut überprüft werden. Die Überprüfung des Zertifikats wird gleichzeitig auch automatisch im Prüflos vermerkt. Die menschliche Interaktion wurde dadurch auf ein Minimum reduziert und ist nur noch erforderlich, wenn die Bewertung des Konformitätszertifikats nicht den Sensirion-Standards entspricht.

KI-gestützte Lieferantensuche bei Roche

Auch Roche nutzt die KI-Funktionen über die Technologieplattform BTP, um die betriebliche Effizienz zu steigern, Prozesse zu optimieren und Geschäftsergebnisse in ERP zu erzielen. Der Pharmakonzern evaluiert, prüft und entwickelt verschiedene Anwendungsfälle. Bereits weit fortgeschritten ist die Entwicklung einer intelligenten Lieferantensuche. Derzeit folgt das Market-Intelligence-Team innerhalb von Roche Global Procurement einem manuellen Prozess für das Aufspüren von Lieferanten. Dieser Prozess umfasst die manuelle Datenkonsolidierung von Lieferantendaten aus unterschiedlichen Quellen sowie Kriterien wie beispielsweise Nachhaltigkeitsratings, Unternehmensgrösse oder geografische Präsenz. Dieser Prozess ist zeit- und arbeitsintensiv und dauert insgesamt zwölf Tage bis zwei Monate.

Die anvisierte Lösung ist als KI-gesteuerte Selbstbedienungsplattform konzipiert, die Funktionen generativer KI nutzt. Das Tool macht Empfehlungen für potenzielle neue Lieferanten oder bietet Zugang zu etablierten Lieferanten, die am besten zu den Anforderungen passen. Benutzer suchen dabei mit Hilfe von Schlüsselbegriffen wie Standort oder Grösse des Unternehmens nach Lieferanten. Im Endzustand soll die Interaktion mit dem Tool mit natürlicher Sprache möglich sein.

Das Entwicklungsteam erwartet von der Selbstbedienungsplattform drei zentrale Vorteile:

  • Schnellere Suche nach geeigneten Lieferanten
  • Datengestützte Entscheide ohne Bias bei der Suche nach neuen oder bestehenden Lieferanten
  • Einsparungen von ca. 20 Prozent des Jahresbudgets, das dem Market-Intelligence-Team zur Verfügung steht
Praktische Lösungen für spezifische Fälle

Beide Beispiele zeigen: KI ist hier – auch in der generativen Variante. Sie ist bereit für den Einsatz in Unternehmen, bringt Vereinfachungen, reduziert Aufwand und steigert die Produktivität. Sowohl Sensirion als auch Roche sowie eine schnell wachsende Zahl weiterer Unternehmen in der Schweiz nutzen KI-Funktion in bestehenden Plattformen und Anwendungen. Ein weiterer Trend ist die Abkehr von Allzweck-KI-Lösungen. Stattdessen geht es um die Lösung spezifischer Geschäftsprobleme mit KI. SAP verfolgt diese Stossrichtung und hat 2024 bereits über 100 neue generative KI-Funktionen veröffentlicht. Sie betreffen Anwendungsfälle, die für die Kunden einen leicht erkennbaren ROI haben – dies im Unterschied zu Anbietern, die versuchen, eine generische Schnittstelle zu ihrer generative KI nutzenden Anwendung zu bauen. «Je spezifischer eine Gen AI-fähige Anwendung, desto weniger Halluzinationen und desto besser das Ergebnis», kommentieren die Analysten von Bernstein diese Vorgehensweise.

Der Ansatz umfasst Anwendungsfälle aus unterschiedlichsten Geschäftsbereichen vom Finanzwesen über die Versorgungskette bis zu Vertrieb und Marketing, Beschaffung und Personalwesen. Viele dieser KI-Funktionen betreffen die IT, insbesondere die Softwareentwicklung. Aus gutem Grund: Denn KI kann den Programmcode schreiben und auch erklären, was dieser tut. Mit KI wird die Programmierung schneller, KI reduziert den Programmieraufwand und produziert erst noch besseren Code. Schätzungen zufolge können Entwickler so eineinhalb Stunden pro Tag einsparen, was einer Zeitersparnis von 15 bis 20 Prozent entspricht. 

KI-Agenten – das nächste grosse Ding

Als ChatGPT vor zwei Jahren auf den Markt kam, drehte sich alles um die neue Art von Chatbot, mit dem man endlich echte Dialoge führen konnte. Spätestens seit diesem Frühling ist ein anderes Thema topheiss: KI-Agenten. Sie seien das nächste grosse Ding, sind sich OpenAI-Chef Sam Altmann und andere Experten einig. Vereinfacht ausgedrückt handelt sich dabei um KI- Algorithmen, die in einer Welt in stetem Wandel autonome Entscheidungen fällen können. Bei herkömmlicher KI gibt man einen Input und erhält einen Output. Bei einem KI-Agenten gibt man ihm ein Ziel vor. Er muss den Weg selbständig und relativ autonom finden, greift aber wenn nötig auf den Menschen zurück. Dadurch können solche Agenten auch komplexere Aufgaben automatisieren. Es gibt in vielen Aufgaben einen «long tail», der nicht in den Standardprozess passt und viel Zeit in Anspruch nimmt. KI-Agenten können hier helfen, Abläufe zu beschleunigen und effizienter zu machen.

In solchen Multiagentensystemen übernehmen KI-Agenten mit spezialisiertem Fachwissen bestimmte Aufgaben in komplexen Geschäftsprozessen. Sie arbeiten Hand in Hand mit anderen spezialisierten KI-Agenten und passen ihre Strategien dynamisch an, um gemeinsam ihre Ziele über verschiedene Geschäftsbereiche hinweg zu erreichen. Dadurch werden Silos abgebaut und die Produktivität gesteigert, denn die KI-Agenten ermöglichen es den Mitarbeitenden, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, die ausschliesslich menschliches Können erfordern. Beispiele, die diesen Produktivitätsgewinn verdeutlichen, gibt es viele, etwa:

  • Bei Konflikten in einem bestimmten Geschäftskontext werden anhand von autonomen KI-Agenten eine Reihe von Streitschlichtungsszenarien gelöst, darunter falsche und fehlende Rechnungen, nicht genutzte Gutschriften und abgelehnte oder doppelte Zahlungen.
  • In der Finanzbuchhaltung kommen autonome KI-Agenten zum Zug, um wichtige Finanzprozesse zu optimieren, indem Aufgaben wie Rechnungszahlungen, Rechnungsverarbeitung und Buchungsaktualisierungen im Hauptbuch automatisiert werden. Dadurch können Unstimmigkeiten oder Fehler rasch behoben bzw. vermieden werden.
  • Ein Kunde bemängelt per E-Mail, dass er einen Rabatt nicht bekommen hat. Der Agent versucht dann herauszufinden, ob der Beschwerdeführer ein Anrecht auf einen Rabatt hat, prüft Bedingungen für einen Rabatt und dessen Höhe und schreibt schliesslich eine E-Mail-Antwort. Für eine solche Aufgabe braucht ein Mensch schnell einmal 30 bis 40 Minuten. Ein KI-Agent erledigt sie in lediglich 5 Minuten.

Was nach ferner Zukunftsmusik klingen mag, hat bereits die ersten Schritte in die Praxis gemacht. Erste Anwendungen sind auf dem Markt. Und erste Unternehmen testen KI-Agenten derzeit – auch in der Schweiz. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich KI-Agenten auf breiterer Basis etablieren. Darum gilt auch hier, was das Roche-Entwicklungsteam anderen Unternehmen rät: Klein beginnen und kontinuierliches Lernen fördern. KI-Know-how sammeln. Lernen und Erkunden verbinden. Alleingänge vermeiden. Mit verschiedenen Technologien experimentieren. Ein Portfolio von wirkungsvollen und schnell umsetzbaren Anwendungsfällen aufbauen. Und vor allem gilt es, jetzt zu beginnen.

Alexander Finger ist seit Juli 2022 Chief Technology Officer von SAP Schweiz. Zuvor war er in leitenden Funktionen in der Energie-, Telekommunikations- und Internetbranche tätig.