Dieser Beitrag beleuchtet die Gründe dafür und zeigt, wie sich Unternehmen zukunftsorientiert aufstellen können, um das volle Potenzial von Gen AI auszuschöpfen.
Am 30. November 2022 hat Sam Altman, Gründer des US-Amerikanischen Softwareunternehmens Open AI, die damals neuste Version des Generative Pre-trained Transformer Models Version 3.5 (kurz GPT 3.5) öffentlich zugänglich gemacht. Mit beispielloser Geschwindigkeit verbreitet sich die KI-basierte Web-Applikation und erreicht innerhalb von nur fünf Tagen bereits eine Million Nutzer. Quasi über Nacht wurde Künstliche Intelligenz für die Massen greifbar.
Der dadurch ausgelöste Enthusiasmus erreichte kurz nach dem „ChatGPT-Moment” auch die (Rück-)Versicherungsbranche und wurde durch zahlreiche, vielversprechende Industrie-Studien weiter gestärkt. Die Erwartungshaltung war riesig: Gen AI versprach Effizienzgewinne zu erzielen, traditionelle Geschäftsprozesse zu revolutionieren, und sogar neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen.
Die hohen Erwartungen führten dazu, dass in den vergangenen zwei Jahren erhebliche Ressourcen in die Entwicklung von Gen AI-Lösungen investiert wurden. Der Fortschritt in der Branche verläuft jedoch uneinheitlich. Während einige (Rück-)Versicherungsunternehmen noch dabei sind, erste Erfahrungen durch unstrukturierte Experimente zu sammeln, haben andere Gen AI bereits fest in ihre Geschäftsstrategie integriert. Besonders erfolgreich bei der schnellen Implementierung von Gen AI sind jene Unternehmen, die bereits über die dafür notwendigen Daten- und Technologiegrundlagen und entsprechend qualifizierte Mitarbeiter verfügen.
Die heutige Anwendungslandschaft von Gen AI lässt sich grundsätzlich in zwei Kategorien aufteilen: Einerseits werden durch horizontale Anwendungsfälle prozessübergreifend und entlang der ganzen Wertschöpfungskette Effizienzgewinne realisiert (z.B. Zusammenfassen und Verfassen von Texten, Such-Funktionen, Strukturieren von Informationen, Ideengenerierung etc.). Andererseits umfassen vertikale Anwendungsfälle Speziallösungen, welche in spezifischen Bereichen der Wertschöpfungskette Aufgaben unterstützen.
Assistierte Erfassung unstrukturierter Daten: Die durch Gen AI-unterstützte Erfassung und Integration unstrukturierter Daten in interne Datenplattformen führt zu erheblichen Zeitersparnissen. Dabei werden unstrukturierte Daten effizient klassifiziert, wodurch eine solide Grundlage für fundierte zukünftige Entscheidungen geschaffen wird.
Kontextbasierte Dokumentenerstellung: Mit Gen AI können kontextbezogene Texte wie Versicherungspolicen, Schadensformulare, Verträge und E-Mails automatisch erstellt werden. Diese Technologie greift auf die interne Wissensbasis eines Unternehmens, wie das Intranet, zu und kombiniert dieses Wissen mit externen Quellen. Dadurch entsteht eine massgeschneiderte und präzise Textgenerierung, die spezifisch auf die Anforderungen und Standards des Unternehmens abgestimmt ist. Das Ergebnis ist eine erhebliche Effizienzsteigerung bei der Erstellung von Dokumenten und eine konsistente Qualität, die sowohl interne Prozesse optimiert als auch die Kundenkommunikation verbessert.
Optimierung von Schadensfallanalysen: Hierbei werden Bilder und Gutachten automatisch analysiert und mit Versicherungsverträgen sowie relevanten Anhängen abgeglichen. Dieser Anwendungsfall ermöglicht eine präzise und effiziente Bewertung von Schadensfällen, indem komplexe Daten in kürzester Zeit verarbeitet und eine fundierte Schadenseinschätzung geliefert wird. So können (Rück-)Versicherer schneller und genauer Entscheidungen treffen, was sowohl den Prozess als auch die Kundenzufriedenheit erheblich verbessert.
Optimierte Risikoprüfung im Underwriting Prozess: Eine auf Gen AI-basierende Anwendung optimiert die medizinische Risikoprüfung in der Lebens- und Krankenversicherung und steigert dabei die Kundenzufriedenheit, indem Kundeninformationen automatisch aus Quelldokumenten, wie medizinischen Patientenakten, extrahiert und auf Basis dieser Daten gezielt Fragen formuliert, um fehlende Informationen einzuholen. Diese Lösung ermöglicht einen höheren Automatisierungsgrad, eine präzisere Risikobewertung und eine verbesserte Kundenerfahrung, da der Bedarf an manuellen Eingaben deutlich reduziert wird.
Trotz erheblicher Investitionen und hoher Erwartungen bleibt der tatsächliche Return on Investment (ROI) von Gen AI-Lösungen in der Versicherungsbranche häufig schwer greifbar. Dies ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen, darunter die Implementierung ohne vorherige Festlegung von geschäftsrelevanten Zielen und klaren Metriken zur Messung des Wertbeitrags. Darüber hinaus wird nach der Pilotphase oft versäumt, eine Reevaluierung vorzunehmen, um zu entscheiden, ob eine Lösung eingestellt oder skaliert werden sollte. Das Fehlen strukturierter Priorisierungsprozesse kann zudem zu einer ineffizienten Ressourcenbindung führen. Diese Herausforderungen werden durch die Komplexität der Kerngeschäftsprozesse in (Rück-)Versicherungsunternehmen sowie durch die Schwierigkeiten bei der präzisen Zuordnung von IT-Kosten weiter verschärft, was die transparente Erfassung realisierter Effizienzgewinne erschwert.
Auf organisatorischer Ebene mangelt es häufig an einer datenzentrierten Ausrichtung, klaren Verantwortlichkeiten und angemessenen Schulungsmöglichkeiten, was zur Skepsis der Mitarbeiter gegenüber neuen Technologien führt. Technologisch betrachtet behindern unzureichende Datenqualität und das Fehlen moderner, hochintegrierfähiger Datenarchitekturen die erfolgreiche Implementierung und Skalierung von Gen AI-Lösungen.
Für eine erfolgreiche Implementierung von Gen AI-Lösungen ist ein systematisches Vorgehen unerlässlich, das in einer klar definierten Gen AI-Strategie verankert ist. Diese Strategie sollte mehrere zentrale Komponenten umfassen:
Organisation: Etablieren von robusten Governance-Prozessen mit einer zentralen Steuerung und klaren Vorgehensweisen. Dies gewährleistet, dass die Priorisierung von Anwendungsfällen im Einklang mit der übergeordneten Unternehmensstrategie erfolgt, während gleichzeitig die Einhaltung von Sicherheits- und Compliance-Standards sichergestellt wird.
Mitarbeiter & Kompetenzen: Das Stärken der Belegschaft durch gezielte Schulungen und Sensibilisierungsprogramme hilft, Skepsis zu reduzieren und Proaktivität zu fördern. Dazu bieten sich neue, Gen AI-basierte Lösungen an, mit dessen Hilfe man Stellenbeschreibungen auf Gen AI-Potenzial analysiert und betroffenen Berufsgruppen und Organisationseinheiten mit passenden Anwendungsfällen verknüpft. Massgeschneiderte Schulungen für unterschiedliche Anwendergruppen fördern zudem die Entwicklung der notwendigen Fähigkeiten und Talente, um das Potenzial von Gen AI in Zukunft voll ausschöpfen zu können.
Technologie: Die Verfügbarkeit einer hochmodernen Datenplattform und einer skalierbaren Datenarchitektur stellen die technologische Basis für die effiziente Nutzung von Gen AI dar.
Zusätzlich ist es entscheidend, von Beginn an transparent mit der Wertgenerierung umzugehen. Die Messung des ROI ist unerlässlich, um einen transparenten Ansatz zur Überwachung der Ergebnisse zu verfolgen – selbst, wenn die aktuellen Resultate noch negativ ausfallen sollten.
Die Zukunft von Gen AI in der (Rück-)Versicherungsbranche ist vielversprechend, bringt jedoch auch erhebliche Herausforderungen mit sich. Um das Potenzial dieser Technologie voll auszuschöpfen und einen Wettbewerbsvorteil zu sichern, bedarf es eines durchdachten Ansatzes, der strategische Investitionen in die Infrastruktur und eine anpassungsfähige Organisationskultur einschliesst. Nur so lässt sich gewährleisten, dass Gen AI mehr als ein Hype bleibt und tatsächlich zu einem Treiber für nachhaltige Innovation und Wachstum wird. Ohne diese Voraussetzungen riskieren Unternehmen, nicht nur den Nutzen der Technologie zu verfehlen, sondern auch ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden.