Nach mehr als 25 Jahren Erfahrung im Versicherungsmarkt kann Sabine Betz mit Überzeugung sagen, dass Veränderungen noch nie so schnell stattgefunden haben wie heute, und dass alle acht in der EY-Studie zur Zukunft der Versicherungsbranche beschriebenen Szenarien mit grosser Wahrscheinlichkeit und unterschiedlichen Ausprägungen eintreten werden. Für Betz, Partnerin und Leiterin im Bereich Versicherungen bei EY Schweiz, ist es nicht die Frage ob, sondern nur wann wir in der Schweiz entsprechende Aktivitäten sehen werden. Die acht Szenarien aus dem EY-White Paper «NextWave insurance – personal lines and small commercial» präsentieren sich wie folgt:

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1. Die Messung von Risiken in Echtzeit wird Realität

2. Der Vertrieb über direkte, digitale und integrierte Kanäle wird zum Wachstumsfaktor

3. Daten werden zu einem ganz wichtigen Wettbewerbsvorteil

4. Der Markt für Fahrzeugversicherungen wird massiv schrumpfen

5. Die Versicherung von Cyberrisiken ist eine Chance und Bedrohung zugleich

6. Ökosysteme werden in Zukunft eine immer grössere Rolle spielen

7. Beim Abschluss von Versicherungen bahnt sich eine Revolution an

8. Der Einsatz von KI in der Schadenbearbeitung steigt rasant

Szenario 1

Die Messung von Risiken in Echtzeit wird Realität: Eine grundlegende Innovation im Bereich Daten und Analyseverfahren beinhaltet die rasche Identifizierung und präzise Einschätzung von Risiken sowie das Nutzen dieser Informationen, um Kundenbedürfnisse proaktiv aufzugreifen. Versicherungskunden können so von potentiell niedrigeren Prämien profitieren, die aus einer präziseren Risikoeinschätzung resultieren. Gleichzeitig entsteht die Möglichkeit, Einfluss auf das persönliche Risikoprofil zu nehmen, um eine niedrigere Prämie zu erreichen.

Für Versicherer besteht die Möglichkeit, mit verschiedenen Analyseverfahren nicht nur operative Verbesserungen zu erreichen, sondern auch die Kundeninteraktion proaktiver zu gestalten, beispielsweise in Richtung vermehrt präventiver Unterstützung zur Schadenvermeidung, was als eines von verschiedenen Elementen wesentlich zur Vertrauensbildung zwischen Versicherer und Kunde beitragen kann.

Szenario 2

Der Vertrieb über direkte, digitale und integrierte Kanäle wird zum Wachstumsfaktor: Digitale Vertriebskanäle werden in der Zukunft weiterhin an Bedeutung gewinnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass persönliche Beratung damit obsolet wird. Im Gegenzug werden sich Versicherungsvermittler in Zukunft zunehmend auf Beratungsleistungen für Kunden und Unternehmen mit komplexeren Risikoprofilen konzentrieren.

Für Kunden bedeutet dies, dass sie die Möglichkeit haben werden, zwischen verschiedenen Interaktionsmöglichkeiten mit dem Versicherer bzw. Versicherungsvermittler zu wählen. Dabei wird es vor allem darauf ankommen, dass Übergänge zwischen den Kanälen bis zum Abschluss störungsfrei funktionieren und «Daten» ohne Verluste übergeben werden. Für Versicherer bietet sich durch die gezielte Nutzung von digitalen Tools und Methoden die Möglichkeit, die Transaktionskosten in der Kundeninteraktion weiter zu senken, was wiederum den Kunden zu Gute kommt. Darüber hinaus können Kunden sehr viel gezielter entsprechend ihrer Bedürfnisse und entlang ihres Lebenszyklus bedient werden. Vor allem in einem Agentur- und Makler dominierten Markt wie der Schweiz werden sich hier in der Zukunft wesentliche Opportunitäten ergeben. «Gerade in einem weniger preissensitiven Markt wie der Schweiz wird der Versicherer gewinnen, der durch herausragenden Service und eine feine Abstimmung verschiedener Kundenzugangswege die Kunden in der Zukunft bedient», betont Bernhard Schneider, global verantwortlich für Strategie und Operations für Versicherer bei EY.

Szenario 3

Daten werden zu einem ganz wichtigen Wettbewerbsvorteil: Seit Jahren wird prognostiziert, dass die grössten und erfolgreichsten Technologieunternehmen und -plattformen der Welt auf den Versicherungsmarkt drängen werden. Die komplexen regulatorischen Rahmenbedingungen sowie die hohe Fluktuation und niedrige Profitabilität neu gegründeter Unternehmen stellen jedoch für neue Mitbewerber nach wie vor grosse Hindernisse dar.

«Ich sehe Potenzial in der engen Zusammenarbeit von Technologieunternehmen und Versicherern», sagt Sabine Betz. «Typischerweise haben Technologieunternehmen herausragende Fähigkeiten in der Entwicklung von Kundenerlebnissen sowie in der Datensammlung und -analyse. Versicherer haben historisch herausragende Fähigkeiten in der Einschätzung von Risiken als Kern ihres Geschäftsmodells. Zusammen könnte hier ein attraktives Angebot für Kunden entstehen, die zunehmend innovative Kundenerfahrungen aus anderen Branchen auf die Versicherungsbranche übertragen, gleichzeitig aber die Sicherheit und Verlässlichkeit eines Versicherers schätzen.»

Szenario 4

Der Markt für Fahrzeugversicherungen wird massiv schrumpfen: Klar ist, dass autonomes Fahren in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird und damit auch Auswirkungen auf das Prämienvolumen haben wird. Kunden werden durch Sharing Modelle weniger Autos tatsächlich besitzen und andererseits von der Verfügbarkeit massiv profitieren. Versicherer werden sich in der Zukunft durch innovative Ansätze am Markt behaupten müssen, um nicht als reiner Produktgeber und Teilnehmer im Mobilitätsökosystem zu enden. «Im Schweizer Markt sehe ich hier bereits heute schon einige Aktivität, vor allem in der proaktiven Bildung und Gestaltung von Ökosystemen rund um die Mobilität getrieben durch verschiedene Versicherer», so Betz. Verglichen mit anderen internationalen Entwicklungen hinkt die Schweiz jedoch hinterher, teilweise bedingt durch immer noch auskömmliche Margen für Versicherer in diesem Segment.

Szenario 5

Die Versicherung von Cyberrisiken ist eine Chance und Bedrohung zugleich: Der Markt für Cyberrisiken steht immer noch am Anfang der Entwicklung, speziell in der Versicherungsbranche. Aktuelle Statistiken zeigen ein Auseinanderdriften von ökonomischen und versicherten Schäden verursacht durch Cyberattacken (Quelle Economist). Versicherer stehen hierbei vor der zentralen Herausforderung, dass Risiken und Auswirkungen nur sehr schwer ein- und abzuschätzen sind und damit auch eine kompetitive Preisfindung schwierig abzubilden ist. Gleichzeitig birgt die Versicherung von Cyberrisiken grosses Wachstumspotenzial, da ganze Bevölkerungen, Institution, Regierungen etc. davon betroffen sein können.

Szenario 6

Ökosysteme werden in Zukunft eine immer grössere Rolle spielen: Neben InsurTechs arbeiten Versicherungsunternehmen mit einer Vielzahl von Partnern wie Baufirmen, Fahrzeug- und Geräteherstellern, Kreditkartengesellschaften, Reiseveranstaltern und anderen verbraucherorientierten Unternehmen zusammen, um Daten wirksam einzusetzen und Angebote zu erstellen, die ihre traditionellen Stärken ergänzen. Dies wird sich in der Zukunft noch weiter verstärken und über Marktgrenzen hinweg stattfinden. Versicherer stehen dabei vor der Herausforderung, ihre Marktposition und Rolle in diesen Ökosystemen zu definieren und riskieren dabei, für Kunden irrelevant zu werden, da Versicherungen besonders im Massengeschäft in der Zukunft «mit dem Produkt» gekauft werden und so die Gefahr besteht, dass die Kundenschnittstelle verloren gehen wird. «Aktuelle Entwicklungen beispielsweise im Automobilgeschäft, aber auch anderen Branchen deuten in diese Richtung und werden sich in der Zukunft noch weiter verstärken», sagt Sabine Betz. Kunden werden dabei profitieren, da sie «nur» noch das Produkt kaufen und sich über den Versicherungsschutz nicht zusätzlich Gedanken machen müssen. Versicherer werden hierbei Lösungen und Ansätze finden müssen, um ihre Marktposition auch in der Zukunft zu verteidigen.

Szenario 7

Beim Abschluss von Versicherungen bahnt sich eine Revolution an: Kunden treffen während ihres Lebens laufend finanzielle Entscheidungen, die sich letztlich 5 Kategorien zuordnen lassen: 1) Sparen 2) Investieren 3) Leihen 4) Ausgeben 5) Absichern. Dabei ist es vorstellbar, dass sich Plattformen mit Angeboten entwickeln, die alle diese Kategorien auf sich vereinen und Kunden bedarfs- und zeitpunktgerechte Angebote machen. Dabei wird es für Kunden möglich sein, sich einmalig gegen eine Gebühr auf dieser Plattform zu registrieren, um dann über den gesamten Kundenlebenszyklus hin Angebote und Services in Anspruch nehmen zu können. Finanzdienstleister werden ihre Produkte und Services über diese Plattform in der Zukunft anbieten. Versicherungsprämien werden anhand der Lebensgewohnheiten und bestimmten Ereignissen im Leben der Verbraucher nachvollziehbar und transparent berechnet. Kunden erhalten damit einen One-stop-shop, der sie über den ganzen Lebenszyklus hinweg begleitet. Anbieter von Produkten und Services werden in einem Wettbewerb stehen, ihre besten Angebote auf der Plattform zielgruppenorientiert anzubieten.

Szenario 8

Der Einsatz von KI in der Schadenbearbeitung steigt rasant: Ein Anfang ist gemacht, viele Versicherer arbeiten an Verbesserungen im Schadenmanagementprozess, vor allem durch den Einsatz moderner Methoden und Technologien. Der Einsatz von Algorithmen sind häufige Anwendungsgebiete. Über die nächsten Jahre wird der Grad der Automatisierung weiter zunehmen und sich auf andere Bereiche wie die Schadenaufnahme, -verarbeitung und -auszahlung weiter ausdehnen. «International sehen wir bereits Versicherer, bei denen über 90 Prozent der Schäden vollautomatisiert bearbeitet werden. Hier liegt enormes Effizienzsteigerungspotenzial, betrachtet man die aktuellen Schadenquoten im europäischen Vergleich», sagt Bernhard Schneider. Für Kunden bedeutet dies einen signifikanten Mehrwert durch einfachere und schnellere Schadenbearbeitung. Versicherer können durch konsequente Automatisierung Kostensenkungspotenziale heben. Bei gleichzeitiger Erhöhung der Servicequalität und Kundenzufriedenheit birgt die intelligente Automatisierung signifikantes Wertsteigerungspotenzial.