Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten, dass Marken soziale Verantwortung übernehmen, etwa indem sie Vielfalt, Gerechtigkeit und Inklusion auch in ihrer Werbung hervorheben. Damit Werbe- und Kommunikationsagenturen diese Themen glaubwürdig kreativ transportieren können, sollten sie selbst DEI (Diversity, Equity, Inclusion) leben. Annette Häcki, Mitglied der Geschäftsleitung und Executive Creative Director von Jung von Matt Limmat, und Roman Hirsbrunner, CEO von Jung von Matt, reden offen darüber, wo ihre Agentur diesbezüglich steht.

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Annette Häcki: Roman, das aktuelle Motto des ADC ist «Zeigen, wie’s geht», und das Jahresmagazin 2022 widmet sich unter anderem dem Thema DEI. Was denkst du: Zeigen wir bei Jung von Matt in diesem Bereich, wies geht?

Roman Hirsbrunner: Immer öfter, aber noch nicht oft genug. Wir haben in den letzten Jahren viel Zeit und Engagement in den Bereich Diversity investiert. Und Equity und Inclusion sind in unserer Unternehmenskultur als grundsätzliche Denk- und Handlungsweisen stark verankert. In der Praxis setzen wir diese beiden Grössen aber vergleichsweise weniger um.

Annette Häcki: Mit den «grundsätzlichen Denk- und Handlungsweisen» sprichst du unsere Leitsätze an …

Annette Häcki, Executive CreativeDirector, Jung von Matt Limmat

Roman Hirsbrunner, CEO, Jung von Matt

Roman Hirsbrunner: Ja, einer unserer Leitsätze, an denen wir uns in der täglichen Arbeit und im Miteinander orientieren, lautet «Wir feiern die Vielfalt». Er bezieht sich meiner Meinung nach auf alle drei Dimensionen von DEI – zumindest leben wir das so. Die Vielfalt, also Diversity, ist das Offensichtlichste und beinhaltet Unterschiedliches wie ethnische und soziale Herkunft, Geschlecht, Gender und sexuelle Orientierung, aber auch Alter.

Annette Häcki: Unsere Kreativarbeit wird ja auch nur dann wirklich exzellent, wenn sie von unterschiedlichen Lebensrealitäten gespeist wird. Dass in unserem Leitsatz Equity- und Inclusions-Gedanken mitschwingen, sehe ich zum Beispiel darin, dass wir vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten anbieten, die auf die einzelnen Mitarbeitenden zugeschnitten sind. Darin liegt der Kern von Equity-Überlegungen. Und Inclusion kommt bei uns bereits implizit zum Tragen, indem wir ein flaches Hierarchiesystem etabliert haben und in interdisziplinären Teams auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

Roman Hirsbrunner: Genau. Wir glauben nicht an Kreativgötter, die von oben herab das Mass aller Kreativität predigen, sondern an die Kraft von Vielfalt.

Annette Häcki: Als Teil des Kreativ-Leitungsteams von Jung von Matt Limmat fokussieren wir bewusst darauf, in Kreativprozessen eine Kultur zu etablieren, die Raum lässt für unterschiedliche Meinungen, Eindrücke und Ideen. Das ist nicht immer einfach, öfter sogar anstrengend, aber die Resultate, die wir damit erzielen, geben uns recht. Und das zeigt sich nicht nur im Endprodukt für unsere Kundinnen und Kunden, sondern vor allem im Effekt, den diese Art des Zusammenwirkens auf unsere Teams hat. Aber bei dem Thema geht es nicht nur um ein gutes Gefühl. Im Zusammenhang mit DEI steht oft die Lohntransparenz im Raum. Eine sehr konkret messbare Grösse. Wir kommunizieren intern Lohnbänder, also eine prozedurale Lohntransparenz, aber keine effektiven Löhne. Immer mal wieder kommt die Frage auf, warum wir das so handhaben. Was ist deine Antwort darauf?

«Wenn man über Frauen spricht, spricht man oft im gleichen Atemzug über Kinder.»

Annette Häcki

Roman Hirsbrunner: Für uns entscheidend ist die prozedurale Lohntransparenz. Also dass Mitarbeitende verstehen, wie Löhne entstehen und was ihre Entwicklungsschritte zu einer nächsten Senioritäts- und damit Lohnstufe sind. Das muss und soll nachvollziehbar sein. Eine komplette Lohntransparenz – und das ging aus unterschiedlichen Erhebungen bereits hervor – bringt keinen grossen Mehrwert. Transparente Lohnbänder zusammen mit der Möglichkeit für Mitarbeitende, untereinander über ihre Entlöhnung zu sprechen, führen zu einem quasitransparenten System, bei dem jede und jeder selbst entscheiden kann, ob er oder sie komplett offen über die eigenen Einkommensverhältnisse sprechen möchte.

Annette Häcki: Was du sagst, erinnert mich an ein Zitat von Simon Sinek, das ich kürzlich gelesen habe: «Transparency doesn’t mean sharing every detail, it means always providing the context for our decisions.» Um bei den messbaren Grössen zu bleiben: Wir haben mittlerweile eine beträchtliche Anzahl an Frauen in Führungsfunktionen. Unter anderem ist unsere Kreation stark weiblich geprägt. Hat das in deiner Wahrnehmung etwas verändert?

Roman Hirsbrunner: Ja, auf jeden Fall. Mit jeder zusätzlichen Diversitätsdimension wird unser Arbeiten reichhaltiger und spannender. Wo Unterschiede aufeinandertreffen, entstehen meist die besten Ideen – vorausgesetzt, die Unternehmenskultur gibt diesen Raum und versucht nicht, alles in ein gleichgeschaltetes Schema zu pressen.

Annette Häcki: Unser Verwaltungsrat hingegen besteht fast ausschliesslich aus Verwaltungsräten …

Roman Hirsbrunner: Stimmt, wir sind mit einem Frauenanteil von 25 Prozent etwa gleich schlecht wie der Durchschnitt der Unternehmen im SMI. Unsere letzte Besetzung war eine Frau (Sunnie Groeneveld), und bei der nächsten Vakanz wird mit allergrösster Wahrscheinlichkeit wieder eine Frau dazustossen. Denn auch in einem VR ist ein «more of the same» langfristig nur hinderlich. In solch einem Gremium müssen unterschiedliche Impulse vorhanden sein.

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Annette Häcki: Wenn man über Frauen spricht, spricht man oft im gleichen Atemzug über Kinder. Natürlich betreffen Kinder die Väter gleichermassen. Wir sind beide Eltern und wissen, wie herausfordernd die Vereinigung von Familie und Beruf sein kann. Wie, findest du, schlagen wir uns als Unternehmen in diesem Bereich?

Roman Hirsbrunner: Wir versuchen, die Klassiker in puncto Vereinbarkeit zu garantieren und zu fördern. Also Teilzeitarbeit – und das nicht nur bei Frauen! –, verlängerte Elternzeit und ein unaufgeregter Pragmatismus der Aufgabe gegenüber, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Das ist jedoch nicht genug. Wir arbeiten daran, noch bessere Ausgangs- und Grundlagen für Eltern zu schaffen.

Annette Häcki: Und wie ist es für dich persönlich?

Roman Hirsbrunner: Anspruchsvoll! Du kennst das ja selbst: Solange das «System Familie» störungsfrei läuft, lässt sich das Ganze irgendwie bewerkstelligen. Nur läuft das Leben selten störungsfrei – darauf muss man sich Tag für Tag neu einstellen. Und zahlt dann mit der einen oder anderen (oder eher vielen) schlaflosen Nacht. Gleichzeitig sind meine Töchter für mich, so abgedroschen es klingen mag, ein grosser Quell an Inspiration. Niemand schaut so unvoreingenommen auf die Dinge wie Kinder. Das kann im Beruflichen beflügeln. Und wie empfindest du die Situation?

«Wir fördern das hybride Arbeiten mit unserem «Work from anywhere»-Approach.»

Roman Hirsbrunner

Annette Häcki: Ich müsste lügen, wenn ich sage, dass es immer einfach ist. Natürlich kommt man an seine Grenzen. Deadlines müssen eingehalten werden. Und Kindern sind Deadlines nun mal und zum Glück völlig egal. Gleichzeitig entlastet es ungemein, wenn Kinder im beruflichen Setting nicht als Handicap, sondern als natürlicher Teil des Lebens verstanden werden. Und so empfinde ich das bei uns. Vielleicht wäre der Schweiz mit einer Viertagewoche für alle geholfen.

Roman Hirsbrunner: Dass sich eine nationale Regelung durchsetzen wird, bezweifle ich, aber die Diskussion unterstreicht das Bedürfnis nach flexibler Lebensgestaltung. Mit unserer Teilzeittradition sind wir hier in der Schweiz sicher auf dem richtigen Weg.

Annette Häcki: Und Homeoffice?

Roman Hirsbrunner: Hat viele Vorteile. Wir fördern das hybride Arbeiten mit unserem «Work from anywhere»-Approach. Schliesslich hat auch das Gemeinsame hier in der Agentur seinen Wert.

Roman Hirsbrunner: Wir haben über diverse DEI-Themen gesprochen, die sich direkt um unsere Organisation drehen. Was mir, und ich glaube, dir auch, bei der Diskussion um DEI-Themen in der Agenturbranche häufig fehlt, ist der Blick nach aussen. Wir beschäftigten uns sehr stark mit uns selbst, unserer Aufstellung, unseren internen Abläufen. Das ist richtig und wichtig. Aber den grössten Hebel können wir mit unserer Arbeit betätigen. Und da haben du und unsere Agency Communications Director Nina Bieli mit dem Gislerprotokoll einen wichtigen Beitrag geleistet.

Annette Häcki: Genau diese Gedanken haben uns zu dieser Initiative veranlasst. Wir müssen unsere Arbeit für Kundinnen und Kunden betrachten und uns fragen: Tragen wir damit zu einer diversen, egalitären und inkludierenden Gesellschaft bei? Leider ist das viel zu oft noch nicht der Fall – und wir reproduzieren Stereotype, die vor einigen Jahrzehnten vielleicht in der Realität verankert waren. Der Erfolg des Gislerprotokolls mit mittlerweile rund achtzig Mitgliedsagenturen zeigt, dass ein Bedürfnis besteht, sich mit diesem Thema zu befassen. Apropos: Wie hältst du es denn mit der inklusiven Sprache?

Roman Hirsbrunner: Ich arbeite daran! (lacht) Im geschriebenen Wort fällt es mir mittlerweile sehr viel leichter. Man gewöhnt sich an eine Art und Weise, wie Formulierungen aussehen sollten, sei es nun mit neutralen Bezeichnungen oder mit dem Doppelpunkt. Den Ausdruck «Mitarbeiter» zu lesen, fühlt sich mittlerweile schlicht falsch an. Im gesprochenen Wort muss ich mich aber bessern. Den Glottisschlag habe ich noch nicht gleich gut verinnerlicht.

Annette Häcki: Was nicht ist, kann ja noch werden. Was würdest du von Englisch als Unternehmenssprache halten, vor allem um mehr Talente anzuziehen?

Roman Hirsbrunner: Ein interessanter Gedanke. Da wir aber grösstenteils für Schweizer Unternehmen arbeiten, deren Unternehmenssprache wiederum Deutsch ist, ist das im Moment kein dominantes Anliegen.

Annette Häcki: Warum haben wir eigentlich keine Menschen mit Beeinträchtigungen im Team?

Roman Hirsbrunner: Wir haben zugegebenermassen in der Vergangenheit nicht explizit darin investiert, in dieser Hinsicht divers zu sein. Das ist aber keinesfalls ausgeschlossen, denn wie schon gesagt: mehr Diversität, mehr Facetten, mehr Ideenreichtum.

Annette Häcki: Was fällt dir zu «barrierefreie Website» ein?

Roman Hirsbrunner: Immer öfter State of the Art. Bei unserer eigenen noch nicht.

Annette Häcki: Danke, Roman, ich freue mich auf alles, was wir gemeinsam künftig erreichen können für Diversity, Equity und Inclusion. Bei uns in der Agentur sowie in der gesamten Branche.

«In der Schweiz haben wir sehr traditionelle Rollenbilder»

Status quo: Wie wird DEI in der Werbebranche umgesetzt?

Aus unserer Sicht und gestützt auf globale Daten müssten Agenturen DEI als strategisches Thema verankert haben, da sich seitens der Kundschaft ein klares Bedürfnis abzeichnet, die Vielfalt unserer Gesellschaften in der Werbung wiederzugeben. Je vielfältiger die Teams in den Agenturen, desto vielfältiger wird der Output. Insbesondere die jüngere Generation (18 bis 25 Jahre) zeigt eine hohe Awareness für DEI in der Werbung im Zusammenhang mit ihren Kaufentscheidungen.

Was ist nötig, damit sich in puncto DEI tatsächlich etwas bewegt?

Das Commitment und aktive Engagement der obersten Führung beziehungsweise Geschäftsleitung, klare und messbare Ziele und Ressourcen für die Führungskräfte sowie eine langfristige Kulturveränderung, die einerseits die unbewussten Vorurteile reflektiert und anderseits die Prozesse und Strukturen so verändert, dass eine Kultur gelebt wird, die Vielfalt wertschätzt, also «inclusive» ist.

Und darüber hinaus eine umfassende DEI-Strategie mit Massnahmen, die möglichst vielen Mitarbeitenden nutzen. Es macht mehr Sinn, Kulturen und Systeme so zu verändern, dass sich mehr (potenzielle) Mitarbeitende zugehörig und wertgeschätzt fühlen, also «Sonderlösungen» für Frauen und Minoritäten-Gruppen in einem für sie unpassenden System zu suchen (Stichwort «Menstruationsfreitage»).

Was bringt es den Agenturen, sich des Themas anzunehmen?

Spontan fallen uns drei gute Gründe ein:

1. Heterogene Teams sind innovativer, das zeigt die Forschung recht eindeutig. Die ewig gleichen stereotypen Werbungen verfehlen zunehmend ihre Wirkung.

2. Dazu kommt eine gesellschaftliche Verantwortung der Branche. Medien haben einen Multiplikatoreffekt, sie können helfen, Bilder in unseren Köpfen zu verändern, die bereits vorhandene gesellschaftliche Vielfalt besser abbilden und so letztlich auch ihren Auftraggebenden helfen, mehr Kundinnen und Kunden anzusprechen.

Das führt mich zu 3.: Um die Glaubwürdigkeit gegenüber Auftraggebenden zu stärken und die besten Talente zu gewinnen und zu halten, ist auch in den Agenturen eine gewisse Vielfalt der Mitarbeitenden und Führungskräfte nötig. Es braucht unterschiedlichste Rolemodels, die als Identifikationsfiguren für alle Talente und nicht nur sehr selektiv für die eine oder andere Gruppe von Menschen stehen.

Welche positiven Beispiele im Hinblick auf DEI gibt es in der Branche?

Wir können aufgrund unserer Erfahrung mit einzelnen Agenturen feststellen, dass das Thema adressiert ist. Auf Verbandsebene engagiert sich Swiss Leading Agencies und kümmert sich darum, die Agenturen beim Management von DEI zu unterstützen. Ausgehend von einer Bedürfnisanalyse bei den Agenturen werden entsprechende Angebote bereitgestellt (beispielsweise Workshops für chancengerechtere HR-Prozesse).

Sehen Sie Schweizer DEI-Eigenheiten?

Die Schweiz ist mit einigen Besonderheiten im Hinblick auf DEI konfrontiert. So haben wir – teils historisch bedingt, teils wohlstandsbedingt – sehr traditionelle Rollenbilder. Frauen werden mehrheitlich als Hauptverantwortliche für Kinder und Haushalt und damit lediglich als «Zuverdienerinnen» betrachtet, Männer nach wie vor als Familienernährer. Das spiegelt sich in einer sehr hohen Teilzeitarbeitsquote der Frauen wider, die wiederum ihr Vorankommen in der beruflichen Entwicklung negativ beeinflusst. Das duale Bildungssystem, das viele Vorteile hat, führt, durch die sehr frühe Entscheidung, zu einer Verstärkung der geschlechtertypischen Berufswahl und verändert damit den Arbeitsmarkt nur langsam. Viele junge Männer wählen noch immer MINT-Berufe, während Frauen vor allem im Sozial- und Gesundheitsbereich engagiert sind. Es ist kein Zufall, dass wir gerade in diesen hoch geschlechtersegregierten Berufsfeldern den höchsten Fach- und Führungskräftemangel haben. Dagegen hat die Schweiz mit der hohen Quote von Ausländerinnen und Ausländern viel Erfahrung, wie ein Zusammenleben und -arbeiten in multikulturellen Kontexten gelingt. Wir haben im Vergleich zum umliegenden Ausland sicher eine höhere Diversität bezüglich Kulturen, Religionen und Nationen. Schliesslich ist die direkte Demokratie hervorzuheben, in der Veränderungen oft sehr lange dauern, die, wenn sie dann durchkommen, aber nachhaltiger sind, weil breit abgestützt.

Gudrun Sander ist Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre mit besonderer Berücksichtigung des Diversity Managements an der Universität St. Gallen und Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management. www.ccdi-unisg.ch