Die meisten Menschen mögen bekanntlich das Bekannte, das Beständige. Es ist gut, zu wissen, dass die SBB pünktlich fahren. Es ist gut, zu wissen, dass ich morgens beim Bäcker meinen Kaffee wie gewohnt bekomme. Und es ist angenehmer, wenn die Migros nicht alle naselang die Regale neu sortiert.
Selbst am Anfang eines Forschungsprozesses weiss der Wissenschafter schon, was er erforscht und wohin er forscht. Er stellt sich eine möglichst genaue Forschungsfrage, die er dann methodisch und akribisch beweist oder widerlegt. Glaubt er, die Antwort schon von Beginn zu kennen, nennt man es Hypothese.
Kreative sind anders. Kreative liebäugeln nicht mit dem, was sie schon kennen. Nicht einmal in Frage- oder Hypothesenform. Sie suchen nach dem Neuen und gehen rein ins Unbekannte. Dahin, wo vorher noch keiner hingegangen ist – selbst sie nicht. Denn wer Out-of-the-box-Lösungen liefern soll, kommt nicht weiter, wenn er nur auf die Box starrt. «Otherwise you only get where other people have already got – and that is not creative by definition», wie es der kanadische Psychologe Dr. Jordan Peterson ausdrückt.
Wer Neues schaffen will, kann und darf nicht die Zerstörung des Alten im Blick haben.
In der Werbung haben wir dementsprechend gelernt: Sag dem Konsumenten nie etwas, das er schon weiss. Gleichzeitig gilt aber auch: Sag der Konsumentin nie, dass ihre bestehende Weltanschauung falsch ist. Und genau darin liegt die Krux. Nicht nur etwas Neues zu finden, sondern das Neue auch so zu verkaufen, dass es das Bestehende und Bekannte nicht angreift.
Einem alten Hund neue Tricks beibringen
Nehmen wir als Beispiel den neuen «James Bond». James-Bond-Filme funktionieren immer nach dem gleichen Prinzip: Charmanter Womanizer widmet sein Leben dem Kampf gegen das Böse. Und gewinnt natürlich. Dies wird in jedem James-Bond-Film einfach «neu» erzählt, in einem «neuen» Setting, mit einer «neuen» Besetzung. Auf James Bond können wir uns verlassen. Wenn nun James Bond aber plötzlich sesshaft wird und heiratet, dann stossen wir uns daran. Ebenso, wenn das Hauptthema im aktuellen Batman-Film nicht mehr der Kampf «Gut gegen Böse» ist, sondern der Kampf gegen Batmans eigene, innere Traumata, dann stört uns das. Es passt nicht ins Konzept. Und dies nicht, weil es neu ist, sondern weil es in erster Linie und hauptsächlich mit dem Alten bricht. Ohne uns dabei eine sinnvolle Alternative zu bieten. Umso mehr stört es uns in einer Welt, in der gerade alles unsicher und unbeständig zu sein scheint. Gerade in diesen Zeiten sehnen wir uns zumindest nach filmischer Ordnung. Wenigstens da soll klar sein, dass Gut weiterhin gegen Böse kämpft.
Was Investoren nicht hören wollen
Aus dem gleichen Grund möchte kein Investor oder Business Angel in einem Business-Pitch hören, dass es sich hier um ein ganz neues Geschäftsmodell oder Payment-Model handle. Etwas, das so vorher noch nie jemand gemacht habe. Denn das heisst vor allem eines: nicht erprobt, keine Sicherheit, hohes Risiko. Abgelehnt. Jeff Bezos rät hierzu: «I very frequently get the question: What’s going to change in the next ten years? ... I almost never get the question what’s NOT going to change.» Die Antwort: Leute werden immer bequem, zu tiefen Preisen und aus einem grossen Sortiment einkaufen wollen. Hallo, Amazon! Jeff Bezos hatte also nicht die Disruption der Handelsbranche im Blick. Auch wenn viele gerne dem Schrei «Disrupt the industry!» folgen. Die Erschütterung und Neusortierung der Handelsbranche ist lediglich das Resultat – wie es damals mit den Autos und den Pferdekutschen geschah. Oder wie mit Netflix und der Film- und Fernsehwirtschaft. Sie ist sozusagen das By-product, aus manch einer Sicht vielleicht auch der Kollateralschaden, aber sie ist nie das Ziel. Denn wer wirklich Neues schaffen will, kann und darf nicht die Zerstörung des Alten im Blick haben. Besser ist also, erst einmal das zu akzeptieren, was sich nicht ändern und nicht kontrollieren lässt – wusste schon Buddha.
Artgerecht und verdaulich
Wer aus moralischen Gründen kein Fan von Jeff Bezos ist, kann sich auch Quentin Tarantino als Vorbild nehmen. Selbst er arbeitet nicht komplett frei von gängigen Strukturen. Er respektiert das Bestehende, führt aber in das Bekannte etwas Neues ein. Wie im Film «Django Unchained»: Eine Gruppe Cowboys reitet in bedrohlicher Manier in Slow Motion auf die Kamera zu. Herkömmlicherweise würde hier passend zum Genre eine Gefahr ankündigende Westernmusik unterlegt werden. Tarantino wählte aggressiven, dominanten Hiphop. Damit zerstörte er die Erwartung nicht komplett, schaffte aber trotzdem etwas Unerwartetes. Ähnlich können die im Lockdown «neu» gedachten und als Plakatwerbeflächen verkauften Schaufenster gesehen werden. Eine Idee aus dem Hause Brinkertlück. Oder die von Publicis ersonnene Aktion: Handyhüllen in den Sunrise-Farben auffällig branden und Kunden und Kundinnen des Telco-Riesen, die am Bellevue vor sich hin telefonieren, selbst zu Werbeträgern und Brand Ambassadors werden lassen. Sichtbarkeit und Word of Mouth mal anders umgesetzt. Ebenfalls ein gutes Beispiel: Restaurants mit Fusionsküche, welche zwei Elemente kombiniert. Das «Beste aus zwei Welten» ist aber eben nur dann das «Beste aus zwei Welten», wenn es etwas Neues, Eigenständiges hervorbringt.
Eine neue Idee muss so verkauft werden, dass sie für die Leute verdaubar ist.
Wer es nicht schafft, das Neue mit dem Bestehenden zu verknüpfen, bleibt im chaotischen, ungeordneten Zustand hängen. Das ist an sich nicht schlimm, wirtschaftlich aber zumindest nicht nutzbar. Um nochmals Tarantino aufzugreifen: Seine Filme sind durchzogen mit choreografischen und penibel aufeinander abgestimmten Elementen. Es wird eben nichts dem Zufall überlassen oder einfach nur lustig ausprobiert. Alles hat schon seine «neue» Ordnung. Reines Chaos – egal wie kreativ oder künstlerisch – lässt sich nicht einordnen und wird so von der Mehrheit nicht aufgegriffen, nicht verstanden. Deshalb sagen wir in der Werbung auch: Man muss die Idee auf die Strasse bringen.
Eine Idee, die es bis jetzt noch nicht vollständig auf die Strasse geschafft hat, ist die neue «Idee», dass das Geschlecht kein biologischer Fakt, sondern ein Identitätsgefühl oder ein soziales Konstrukt ist. Diese Idee zerstört eine biologische Ordnung, der wir seit Beginn der Menschheit folgen, und eröffnet gleichzeitig allerlei «ungeordnete» Möglichkeiten: Transgender, kein Gender, zwei Gender, drei Gender, genderfluid. Die politische Linke jubelt, und die rechte, konservative und auf Ordnung bedachte Ecke sträubt sich. Rebellion, Anarchie und Anti allein reichen demnach nicht aus. Eine neue Idee muss so verkauft werden, dass es für die Leute fassbar, verdaubar und leicht einzuordnen ist. Aus diesem Grund bewerben wir Markteinführungen auch immer mit Blick auf das Bestehende und Bekannte. Entweder durch Abgrenzung wie dazumal beim Start von HBO mit dem berühmten Slogan: «It’s not TV. It’s HBO.» Oder durch direkte Eingliederung und Einreihung. Dem neuen Radler von Calanda mit doppelt so viel Alkoholgehalt hat Heineken den Namen «Tandem» verpasst. Eine Assoziation, die jeder versteht. Wer es noch ein Stück frecher und mutiger mag: die Einführung und Bekanntmachung von Tommy Hilfiger. Ein riesiges Billboard in New York: «The Four Great American Designers For Men are: R _ _ _ _ L _ _ _ _ _ / P _ _ _ _ E _ _ _ _ / C _ _ _ _ _ K _ _ _ / T _ _ _ _ H _ _ _ _ _ _ _», Ralph Lauren, Perry Ellis, Calvin Klein und schliesslich Tommy Hilfiger. Und über dieses letzte Puzzlestück, das sich in die Aufzählung der grossen Designer einreiht, hat natürlich jeder und jede gesprochen und gerätselt.
Das Neue von den Dächern schreien
Wer keine Lust hat, sich so was auszudenken, kann auch die billigste aller Varianten wählen und schlicht «Jetzt neu!» draufschreiben. Damit sorgt man mit viel Trara für kurzzeitige Aufmerksamkeit. Wie damals die Marktschreier und heute die «Klatsch und Tratsch»-Zeitungen. Auch die füttern uns mit «News». «Shocking und breaking news». Shocking und breaking, weil sie unser bestehendes Weltbild durcheinanderrütteln. Wir dachten, Prinz Harry und Meghan seien glücklich – ist ja aber gar nicht so.
Sie sind es, die das Ungeahnte finden, das wertvoll,sinnvoll und nützlich ist.
Oder wir dachten, Will Smith nimmt Witze gelassen – war aber nicht so. Das Gewohnte und Erwartete wird kurz durchbrochen. Aber ohne dass sich diese Art von «Neuigkeit» irgendwie halten oder durchsetzen würde. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem «neuen» iPhone, das jedes Jahr «neu» auf den Markt kommt. Dies fördert zwar den «er-neuten» Kauf. Gleichzeitig aber auch die Wegwerfgesellschaft.
Aufbruchstimmung
Auch wenn Greta Thunberg selbst schon längst wieder von der Bildfläche verschwunden ist: Das Neue, wonach wir streben sollten, ist das Neue, das sich hält. Das man nicht gleich wieder vergisst. Das nicht einfach das Bestehende umwirft oder anprangert, sondern eine frische Ordnung bietet und schafft. Mastercard und McCann haben es mit der «True Name»-Karte vorgemacht. Um die Identität von Menschen aus der Trans- und Non-binary-Community widerzuspiegeln, wird nicht der Geburtsname, sondern der gewählte Name auf der Karte abgedruckt. Dies sorgt nicht nur für Glücksgefühle bei der/die/das Besitzer/in, sondern hilft auch, Unbehagen, Bullying oder gar körperliche Angriffe zu vermeiden. Ganz im Sinne des sicheren Bezahlens. Möglicherweise ist dies auch ein neues Geschäftsfeld für Versicherungen. Warum sollte ich nicht auch meine gewählte Identität inklusive das Personal Wellbeing versichern können? Das erhöhte Schutzbedürfnis und die emotionalen Folgeschäden sind zumindest vorhanden.
McKinsey und Co. mögen die besseren Analysten sein – und wer ein Produkt optimieren will, ist im R&D-Departement nach wie vor am besten aufgehoben. Aber es sind die Unternehmer, Gründerinnen, Werber, Querdenkerinnen und Künstler, die den Spagat zwischen dem Neuen und Bestehendem beherrschen. Sie sind es, die das Ungeahnte finden, das wertvoll, sinnvoll und nützlich ist. Um es nochmals in den Worten von Dr. Jordan Peterson auszudrücken: «That’s what creatives do. They’re transforming chaos into order. All the time. They live on the edge between chaos and order. They’re the visionaries who start to transform what we don’t understand. So that we at least can start to see.»
Lena Altorfer ist Inhaberin von Creative Strategy Office. Der Purpose der Zürcher Strategieberatung: «Bridging the gap between business and creativity.»