Seit 1984, als die zweite Säule in das Schweizer Vorsorgesystem integriert wurde, ist die Lebenserwartung um 40 Prozent gestiegen. Frauen leben nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters im Durchschnitt noch 22 Jahre. Dieser demografische Faktor spiegelt zwar eine allgemeine Verbesserung der Gesundheit wider, wirkt sich aber auf das Gleichgewicht der Renten aus. 

Gleichzeitig verschärft die aktuelle berufliche Dynamik mit der Zunahme von Teilzeitbeschäftigten und Selbstständigerwerbenden die Anforderungen an die Altersvorsorge. Im Vorfeld der Abstimmung über die BVG-Reform blickt Thomas Boyer, CEO der Groupe Mutuel, auf die Herausforderungen an diesem Wendepunkt. 

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Bevor wir auf die anstehenden Abstimmungen eingehen: Wie steht es um unser heutiges Rentensystem und den Druck, dem es ausgesetzt ist?

Unser Vorsorgesystem ist zwar insgesamt widerstandsfähig und hat uns beispielsweise durch die letzten Krisen gebracht. Dennoch entspricht es nicht mehr den heutigen Anforderungen, weder in demografischer noch in beruflicher Hinsicht. Die steigende Lebenserwartung bedeutet unweigerlich, dass das im Laufe einer Karriere angesammelte Kapital nicht mehr ausreicht, um alle Ausgaben zu decken und unseren Lebensstandard für den Ruhestand sicherzustellen. Als 1984 die zweite Säule eingeführt wurde, hatte eine Person am Ende ihrer beruflichen Laufbahn im Durchschnitt noch 15 Lebensjahre vor sich, heute sind es 22. Zusätzlich zu diesen demografischen Gegebenheiten und ihren natürlichen Auswirkungen hat sich die Situation auch auf beruflicher Ebene verändert. Der Anteil der Teilzeitbeschäftigten und Selbstständigerwerbenden hat deutlich zugenommen. Diese Arbeitsformen führen in der Vorsorge zu weniger Sparenden und geringeren Beiträgen. Diese Entwicklung betrifft vor allem Frauen, da es im aktuellen Wirtschafts- und Sozialmodell häufig sie sind, die nach einer Familienplanung ihre Karriere in Teilzeit fortsetzen.

Wie stehen Sie im Vorfeld der Abstimmungen zur BVG-Reform und ihren verschiedenen Massnahmen?

Die Reform ist notwendiger denn je. Unser System bedarf dringend einer umfassenden Sanierung. Mit den verschiedenen Massnahmen der Reform werden grundlegende Schwachstellen im aktuellen System angegangen. Die Reform ist insgesamt sozialer und integrativer, und sie erleichtert den Zugang zu Vorsorgeleistungen, insbesondere für Geringverdienende. Möglich wird dies durch die Senkung der Eintrittsschwelle, die in den verschiedenen Vorschlägen für die Reform vorgesehen ist. Auch die Ausgleichsmassnahmen mit Rentenzuschlägen für Neurentnerinnen und -rentner tragen zu einem System bei, das insgesamt sozialer und solidarischer ist.

Wie beurteilen Sie die starken Meinungsunterschiede, die sich in Wirtschafts- und Berufskreisen über die Reform und einzelne ihrer Bestandteile abzeichnen?

Diese Unterschiede zeigen, was diese Reform wirklich ist, nämlich ein Kompromiss. Sie ist nicht perfekt, schliesst aber die grössten Lücken, die unser Rentensystem derzeit aufweist. Die Uneinigkeit, die sie insbesondere unter den Wirtschaftsakteuren und -akteurinnen hervorruft, sollte uns nicht davon abhalten, ihren Nutzen zu erkennen. Ohne die Reform steuert unser System geradewegs auf seine Überalterung zu. Als Versicherer befürworten wir diese Reform, wissen aber auch um die Kosten, die sie für die Arbeitswelt mit sich bringt, vor allem für tiefe Einkommen. Doch die Richtung stimmt. Und diese Reform wird nicht die letzte sein. Es wird auch in Zukunft notwendig sein, sie weiterzuentwickeln.  

Sind die Arbeitgeber als Hauptakteure in der Vorsorgeproblematik ausreichend involviert und sensibilisiert, insbesondere in Sachen Vorsorgepläne, die sie für ihre Mitarbeitenden abschliessen?

Die Unternehmen erfüllen in der Tat eine wichtige Rolle, die weit über die gesetzlichen Verpflichtungen hinausgeht. Sie tragen auch eine soziale Verantwortung. Wir können nur an sie appellieren, ihren Mitarbeitenden gegenüber transparent zu handeln. Letztere sollten sich ebenso angesprochen fühlen und Interesse für den Vorsorgeplan ihres Arbeitgebers zeigen. Diese Leistungen müssen als integraler Bestandteil der Entlöhnung verstanden werden. Und sicherlich wird dies in Zukunft ein zunehmend entscheidender Punkt bei der Rekrutierung sein und von den potenziellen Mitarbeitenden eines Unternehmens stärker beachtet werden.

Bei 40 Prozent der Versicherten wird die Rente steigen

Die Groupe Mutuel schätzt, dass 40 Prozent ihrer BVG-Versicherten (von insgesamt 25’000 versicherten Personen) eine Rentenerhöhung erhalten werden. Die Reform ist nicht perfekt, aber sie ist wichtig, um die Vorsorge für Versicherte mit Niedriglöhnen, Teilzeitarbeit oder Mehrfachbeschäftigung zu verbessern. Es ist klar, dass die Beiträge für viele Versicherte steigen werden, aber dies ist für den Erhalt oder sogar für eine Verbesserung des Rentenniveaus unumgänglich.