Die Inflationsraten sind auch in Europa überraschend schnell gesunken. Trotzdem warnen Sie vor dauerhaften Inflationsraten von 4 bis 6 Prozent. Warum?
Die Faktoren, welche die Inflation im Euro-Raum angetrieben haben, sind nur teilweise beseitigt. Wir hatten seit 2022 zwar eine geldpolitische Straffung am kurzen Ende der Zinsstrukturkurve durch steigende Leitzinsen. Aber die Europäische Zentralbank (EZB) hat lange Zeit auch in grossem Umfang Staatsanleihen, Unternehmensanleihen und Bankanleihen gekauft, was die langfristigen Zinsen gedrückt hat. Am langen Ende der Zinsstrukturkurve hat eine geldpolitische Straffung bisher kaum stattgefunden. Es gibt deshalb weiterhin einen starken Liquiditätsüberhang im Bankensektor, der inflationstreibend sein kann, wenn die Konjunktur wieder anspringt. Die Inflation beschränkt sich aus meiner Sicht auch nicht auf den offiziellen Konsumentenpreisindex. Ich sehe auch inflationäre Tendenzen, wenn die Immobilien-, Gold- oder Aktienpreise stark steigen, was zuletzt wieder der Fall war.
Was ist falsch an steigenden Aktienpreisen? Viele Privatanlegende und auch die meisten Pensionskassen sind in Aktien investiert. Davon profitieren doch alle?
Leider nicht alle. Die Vermögenswerte sind auf die Bevölkerung ungleich verteilt. Aktien und Immobilien konzentrieren sich auf hohe Einkommensschichten, während die Mittelschicht traditionell in Form von Bankeinlagen spart. Das Sparbuch hatte sich zu Zeiten der stabilen Deutschen Mark gelohnt. Doch wir haben in Deutschland keine stabile Währung mehr. Viele Jahre lang lagen die Zinsen bei null, weshalb bei moderaten Inflationsraten die Bankeinlagen wie Bargeld real entwertet wurden. Bei steigenden Vermögenspreisen wurde von der Mittelschicht zu hohen Einkommensschichten umverteilt. Die Mittelschichten in Europa können sich heute kaum mehr Wohneigentum leisten, weil die EZB die Preise durch tiefe Zinsen nach oben getrieben hat.
In der Schweiz wurde in einer Volksabstimmung überraschend deutlich einer 13. staatlichen Altersrente zugestimmt. Wie beurteilen Sie das?
Das hat mich überrascht. Die Schweiz ist mein Lieblingsland, weil sie meist eine liberale Politik betreibt. Wenn ich mir heute die Nationalität aussuchen könnte, dann wäre ich lieber Schweizer (lacht). Die Menschen in der Schweiz denken wohl auch wegen der Volksabstimmungen strukturierter über Probleme nach und gelangen dadurch zu besseren Ergebnissen. Die 13. Monatsrente geht jedoch zulasten der jungen Generation, was angesichts der ohnehin bereits geringen Geburtenraten riskant ist. Die Entscheidung könnte damit zusammenhängen, dass die ältere Generation in einer alternden Gesellschaft ein immer grösseres politisches Gewicht hat.
Verliert die junge Generation langsam das Vertrauen in die Vorsorgesysteme?
Da würde ich nicht widersprechen. In allen Industrieländern lässt die Politik die Interessen der jungen Generation ausser Acht. In der Generation meiner Eltern konnte noch ein Ehepartner die Familie ernähren. Das hat es viel leichter gemacht, eine Familie zu gründen. Heute müssen oft beide Partner arbeiten, um den Lebensstandard, den sie von ihren Eltern kennen, halten zu können. Das trägt zur negativen Demografie bei und bringt umlagefinanzierte Rentensysteme in Schieflage. Ich warte immer noch auf die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, die das Thema endlich aufgreifen. Immerhin ist die Jugend unsere Zukunft.
Ihr neues Buch hat den etwas knalligen Titel «Deutschlands fette Jahre sind vorbei». Wollen Sie den Leuten Angst machen?
Keineswegs. Ich will ein Bewusstsein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen schaffen und eine Alternative aufzeigen. Eine sorgfältige Diagnose ist immer die Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. In den letzten zwanzig Jahren wurden in Deutschland viele Fehler gemacht. Es hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Wohlstand eine Art Verteilungsmasse ist, mit dem man alle möglichen Probleme lösen kann. Langsam setzt sich in der Bevölkerung aber die Einsicht durch, dass es so nicht weitergehen kann. Weshalb? Die Menschen verstehen, dass die Politiker und Politikerinnen in Berlin und Brüssel den Wohlstand nicht retten, sondern gefährden.
Zur Person
Gunther Schnabl ist Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Leipzig. Er leitet dort das Institut für Wirtschaftspolitik. Sein Forschungsschwerpunkt ist insbesondere die internationale Geld- und Währungspolitik.
Ausbildung und berufliche Laufbahn
Schnabl hat an den Universitäten Tübingen und Stanford (USA) promoviert und habilitiert. Er war als Gastwissenschafter bei Zentralbanken tätig und arbeitete als Advisor bei der Europäischen Zentralbank. Schnabl ist zudem Senior Advisor am Flossbach von Storch Research Institute.
Was haben Sie persönlich für eine Einstellung gegenüber Kryptowährungen?
Sie benutzen den Begriff «Kryptowährungen». Doch jede Kryptowährung ist anders. Um in die eine oder andere Kryptowährung zu investieren, müsste ich jede einzelne erst einmal verstehen. Ein Dogecoin funktioniert anders als Bitcoin.
Dann ganz konkret: Wie ist Ihre Einstellung zu Bitcoin?
Als Professor für Volkswirtschaftslehre habe ich ein starkes Interesse an Geld, Geldsystemen und Geldpolitik. Aus diesem Blickwinkel sehe ich Bitcoin nicht nur als stabile Alternative zu Papierwährungen, sondern auch als Restriktion für dauerhaft expansive Geldpolitiken. Wenn das Vertrauen in das Weltwährungssystem verloren geht, in dessen Zentrum immer noch der Dollar und der Euro stehen, dann wird man nach Alternativen suchen. Das kann Gold sein, aber die Transaktionskosten von Gold sind relativ hoch. Bitcoin hat ähnlich wie Gold ein glaubwürdiges Versprechen, dass die Menge nicht erhöht werden kann. Zugleich sind die Transaktionskosten geringer. Wenn der Euro und der Dollar immer mehr an Wert verlieren, können die Menschen ihre Ersparnisse in Bitcoin tauschen, um deren Wert zu erhalten. So wird eine zu expansive Geldpolitik der Zentralbanken sanktioniert und damit der Schuldensucht der Regierungen Grenzen gesetzt.
Kryptowährungen haben ein gewisses Kriminalitätsimage.
Das Kriminalitätsargument zählt für mich nicht. Die Mafia zahlt auch in Dollar oder Euro, trotzdem werden Dollar und Euro nicht verboten. Bitcoin ist aus meiner Sicht derzeit in erster Linie ein Wertaufbewahrungsmittel. Wer den Glauben in die Papierwährungen verliert, und das passiert meiner Meinung nach seit mehr als zwanzig Jahren, der sucht nach wertstabilen Alternativen. Das können Gold, Immobilien oder Aktien sein, aber eben auch Bitcoin. Ich kann zwar heute noch nicht in allen Geschäften mit Bitcoin bezahlen, weshalb die Zahlungsfunktion noch beschränkt ist. Aber das kann sich in einer Hochinflationsphase sehr schnell ändern. Dann könnten die Bitcoins oder Satoshis schnell den Besitzer wechseln – von Smartphone zu Smartphone.
Sie sagen einen wirtschaftlichen Niedergang Chinas – ähnlich dem Japans – seit den 1990er-Jahren voraus. Die USA müssen sich nicht mehr davor fürchten, dass China ihnen dereinst den Rang als weltweit grösste Volkswirtschaft ablaufen wird?
Die Frage ist, ob die USA wirklich jemals Angst vor China hatten. Der Boom, den wir lange Zeit in China erlebt haben, wurde ab der Jahrtausendwende durch starke Kapitalzuflüsse aus Japan und den USA getrieben, nachdem dort die Zentralbanken die Zinsen stark gesenkt hatten. Das hat zu Übertreibungen geführt. Zu viele Investitionen haben Überkapazitäten in der Industrie geschaffen, und es ist eine riesige Blase auf dem Immobilienmarkt entstanden. Ähnliches konnte man in Japan zwischen 1985 und 1989 beobachten, nachdem die Bank of Japan die Zinsen stark gesenkt hatte.
Wie wird sich China entwickeln?
Das wird davon abhängen, wie China reagiert. China könnte wie Japan versuchen, die Probleme mit billigem Geld beziehungsweise mit Kreditvergabe durch das staatlich kontrollierte Bankensystem zuzudecken. Dann würden die Überkapazitäten nicht bereinigt, und dauerhaft tiefe Zinsen würden das Wachstum lähmen. Der Wohlstand, den China erreicht hat, würde ähnlich wie in Japan langsam wieder verfallen.
So bleibt der Dollar weiterhin die Weltleitwährung?
So würde ich das sehen. Es gibt derzeit keine andere Fiat-Währung, die den Leitwährungsstatus des Dollars herausfordern kann. Das liegt auch daran, dass eine internationale Leitwährung immer mit hoch entwickelten Finanzmärkten hinterlegt sein muss. Denn wer Fremdwährungsreserven hält, will diese auch gut investieren. Hoch entwickelte Finanzmärkte gibt es in China nicht, weil diese nicht frei sind.