Wie bewerten Sie die aktuelle Konjunkturlage in der Schweiz im Vergleich mit der EU?
Global ist die Konjunkturlage herausfordernd. In vielen ausländischen Märkten sehen wir eine Wachstumsschwäche, auch wenn diese wohl nicht zu einer Rezession führen wird. Blickt man auf den europäischen Markt und insbesondere auf Deutschland, stehen wir nahe einer Stagnation oder gar einer Rezession. Die Wachstumsrate hat vereinzelt ein negatives Vorzeichen. Sicher spüren wir die Implikationen auch in der Schweiz, wenn sich die Weltwirtschaft abschwächt. Ich glaube aber dennoch, dass wir auf globaler Ebene nicht in eine Rezession abgleiten.
Thomas Heller ist seit dreissig Jahren im Finanzsektor tätig, studierte Volkswirtschaft und arbeitete bei der Credit Suisse, bei zwei Privatbanken, einer Kantonalbank sowie einem unabhängigen Vermögensverwalter. Seit März 2024 ist er CIO der Frankfurter Bankgesellschaft in Zürich.
Welche Auswirkungen hat die Inflation auf die hiesige Wirtschaft?
In der Schweiz war die Inflation in der Vergangenheit immer mal wieder negativ, und daher war es ein Schock, was im Jahr 2021 mit den Preisen passiert ist. Hierzulande waren die Folgen noch vergleichsweise harmlos; der Höhepunkt der Teuerung lag unter 4 Prozent. Im europäischen Umfeld jedoch waren wir knapp zweistellig, also etwas über 10 Prozent, und in den USA lag die Inflation bei gut 9 Prozent. Der Preis als marktbereinigendes Element war infolgedessen schwieriger zu interpretieren, was zu Verzerrungen geführt hat. Das Ganze hatte eine gewisse Eigendynamik angenommen, was für Unternehmen, den Staat und die Notenbanken eine Herausforderung darstellte.
Wie ist der aktuelle Stand?
Die Lage hat sich zumindest in der Schweiz wieder normalisiert. Die Inflation liegt hierzulande bereits seit einiger Zeit wieder unter der Marke von 2 Prozent, welche die meisten Notenbanken als Zielgrösse und damit implizit als Preisstabilität definiert haben. Die relevante Kerninflation – welche die volatilen Energie- und Nahrungsmittelpreise ausklammert – lag zuletzt sogar bei noch 1 Prozent. Faktisch herrscht somit in der Schweiz derzeit Preisstabilität. Auch in den USA und in der Euro-Zone hat die Teuerung deutlich nachgelassen. Sie befindet sich aber in beiden Regionen mit 3,3 Prozent (USA) beziehungsweise 2,7 Prozent (Euro-Zone) noch klar oberhalb der anvisierten 2-Prozent-Marke. Die Zielgrösse wird wohl erst im kommenden Jahr erreicht werden.
Welche Auswirkungen haben die dadurch bedingten Situationen in den anderen Ländern auf die Schweizer Wirtschaft und Marktlage?
Die Schweiz ist stark vom Ausland abhängig. Probleme wie Rezessionen oder Inflation in Ländern wie Deutschland, China oder den USA wirken sich auf uns aus. Negative Entwicklungen treffen uns, positive Entwicklungen bringen uns Vorteile. Ein stabiles politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umfeld sowie eine sichere Währung helfen der Schweiz, Teile des Auslandsrisikos abzufedern. Häufig zeigt sich dies durch eine Aufwertung des Schweizer Franken. Über Jahre hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) durch Deviseninterventionen versucht, eine zu starke Aufwertung des Frankens zu verhindern. In Phasen hoher Auslandsinflation hat die SNB Aufwertungen zugelassen, um die lokale Inflation unter Kontrolle zu halten.
Sie sagten anfangs, dass in der Schweiz nicht mit einer Rezession zu rechnen ist …
Richtig, Stand heute gehe ich davon aus, dass wir nicht in eine Rezession abgleiten werden. Es mag zwar durchaus mal zwei Quartale in Folge eine negative Wachstumsrate geben – nach Lehrbuch die Definition einer Rezession. Es wird aber keine sein, die sich als solche anfühlt, mit einem spürbaren Rückgang der Nachfrage, mit Überkapazitäten und markant steigender Arbeitslosigkeit. Treten die zwei Minus-Quartale ohne die negativen Begleiterscheinungen auf, sprechen die Ökonominnen und Ökonomen auch gerne von einer technischen Rezession. Da sind wir in Deutschland derzeit gerade sehr nahe dran.
Wie wirken sich die aktuellen Konflikte wie in der Ukraine oder auch in Israel auf die Schweiz aus?
Aufgrund der geringen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Länder sind die Auswirkungen eher überschaubar, auch an den Märkten. Als der Ukraine-Krieg begann, gab es einen Dip, der zunächst schnell wieder aufgeholt wurde. Die nachfolgende Baisse hatte nichts mit dem Ukraine-Krieg zu tun, sondern erfolgte vielmehr wegen der Zinswende, die 2022 einsetzte. Auch die Volkswirtschaften im Nahen Osten haben wenig Einfluss auf die Finanzmärkte. Natürlich sind solche Konflikte nicht hilfreich für das Wachstum, aber sie werden bestehende Trends in der Regel nicht brechen. Anders sähe es aus, wenn die Erdölinfrastruktur im Iran getroffen würde oder wenn die Lieferketten unterbrochen werden, beispielsweise durch eine Blockade der Strasse von Hormus. Eine solche Entwicklung wäre an den Märkten durchaus zu spüren.
Wie reagiert die Bankenwelt am besten auf diese Herausforderungen? Besonders in der Vermögensverwaltung?
Der grösste Anlagefehler, den man machen kann, ist, nicht investiert zu sein. Irgendwo kriselt es immer auf der Welt, und das wird häufig als Grund genommen, nicht zu investieren oder nicht investiert zu bleiben. Die Geschichte ist gepflastert mit Krisen: die «Tequila-Krise» in Mexiko, die Asienkrise, die Russlandkrise, die Dotcom-Bubble, die Finanzkrise, die Euro-Krise, die Schuldenkrise, Corona und der Ukraine-Krieg. Es hätte immer Gründe gegeben, nicht zu investieren. Der Rat aber lautet: Dabei bleiben. Das zahlt sich auf Dauer aus. Hat man sich für eine Anlagestrategie entschieden und schläft wegen der Unsicherheiten unruhig, hat man das falsche Risikoprofil gewählt. Man muss kritische Phasen, die sich auf den Märkten immer wieder ergeben, aussitzen können. Wenn man das nicht kann, ist man falsch investiert.
Wie gehen Sie mit «besorgten» Kundinnen und Kunden um?
Man muss sie überzeugen, dabei zu bleiben. Eine einmal definierte Strategie kurzfristig umzuschmeissen, lohnt sich in der Regel nicht. Natürlich weiss man manchmal im Nachhinein, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre. Aber eben: Das weiss man erst im Nachhinein. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte zeigen, dass investiert bleiben meist die beste Wahl war.
Und was sind überzeugende Argumente?
In jedem Disclaimer steht, dass die vergangene Performance keine Garantie für die zukünftige ist. Aber sie ist auf lange Sicht halt doch ein guter Indikator. Es gibt viel Wissen darüber, wie Schocks oder Korrekturen, Kriege oder Pandemien den Markt beeinflussen und wie er sich erholt. Das überzeugt viele. Ist die Nervosität so hoch, dass man aussteigen will, muss die Anlagestrategie neu bewertet werden. Viele Anlegende sprechen zwar vom langfristigen Anlagehorizont, aber schauen doch ständig auf ihren Handys nach den Kursen und lassen sich so beeinflussen.
Gerade in den letzten Jahren war das «Aussitzen» doch sicher für den einen oder anderen schwierig?
2022 war vermutlich so ein Jahr. Die Aktienmärkte waren eingebrochen. Auch als Folge des starken Zinsanstiegs, der wiederum zu grossen Kursverlusten bei Anleihen geführt hatte. Das irritierte viele: Wie kann es sein, dass sichere Schweizer Staatsanleihen mit AAA-Rating mehr als 10 Prozent an Wert verlieren? Das hat bei vielen Kundinnen Fragen ausgelöst, auch die, ob sie wirklich investiert sein sollen. Steigende Zinsen führen aber nun mal zu Kursverlusten, das ist reine Mathematik. Doch es sind nur Verluste auf dem Papier. Schweizer Staatsanleihen sind sicher, und es wurden bei Verfall auch alle zu 100 Prozent zurückbezahlt.
Wie sieht denn ein gesundes Portfolio aus? Gibt es Anlageklassen, in die man eher investieren sollte?
Ein «gesundes Portfolio» ist stets diversifiziert. Diversifikation – die Streuung der Risiken über verschiedene Anlageklassen, Regionen und Branchen – reduziert die Volatilität des Portfolios. Selbst bei einer Investition in einen spezifischen Markt, wie amerikanische Aktien, sollten Sie die Anlagen über verschiedene Sektoren und Unternehmen streuen. «Gesund» bedeutet auch, entsprechend Ihrer Risikofähigkeit und -toleranz zu investieren. Konservative Anlegende setzen mehr auf Anleihen, sportliche Anlegende halten mehr Aktien. Wichtig ist eine langfristige Anlagestrategie, der man treu bleibt. Geheimtipps sind oft irreführend. Privatanlegende sollten sich zwei Fragen stellen: Wann soll ich investieren? – Immer! Nicht investiert zu sein, ist keine Option. Was soll ich kaufen? – Alles! Diversifikation ist der Schlüssel.
Wie wichtig ist der Anlagehorizont?
Sehr entscheidend. Das beeinflusst das Risikoprofil. Jemand mit einem Anlagehorizont von zwanzig Jahren kann ganz anders investieren als jemand, der in zwei, drei Jahren mit dem Geld ein Haus kaufen will.
Wie risikobereit ist der Schweizer Anleger? «All in» oder doch eher konservativ?
Es gibt beide Typen, aber die meisten bevorzugen Ausgewogenheit. Während der Tiefzinsphase wurden viele Anlegende zwar etwas dynamischer, das heisst, sie haben sich vermehrt in Aktien engagiert. Ich würde aber meinen, dass Schweizer Anlegende im Durchschnitt eine Aktienquote von 40 bis 60 Prozent haben.
Stichwort Geheimtipp – gibt es den «sicheren Hafen»?
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Risiko und Ertrag: Mehr Risiko bedeutet langfristig höhere Ertragserwartungen. Soll die Anlage so sicher wie möglich sein, reduziert sich das Ertragspotenzial. Schweizer Staatsanleihen sind sehr sicher, auch Festgeld bei einer soliden Bank.