Das (geo-)politische Umfeld wird auch im kommenden Jahr eine wesentliche Rolle für die Konjunktur und die Finanzmärkte spielen. Etwa der Ukraine-Konflikt und die Entwicklung in China. Wir gehen davon aus, dass China zumindest versuchen wird, seine jüngst eingeleitete Lockerung in der Covid-Politik fortzuführen (Rückschläge nicht ausgeschlossen) und dass der Konflikt mit Taiwan 2023 eine untergeordnete Rolle spielen wird. Der Ukraine-Krieg hält an, es kommt aber zu keiner zusätzlichen Eskalation. Auf diesen Annahmen – sie sind mehr als Arbeitshypothesen zu verstehen denn als Prognosen – basieren unsere Konjunktur- und Marktszenarien.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Konjunktur: Keine Rezession

Geht es nach der Mehrheit der Analysten, so ist eine Rezession in den USA im kommenden Jahr eine ausgemachte Sache. Die von der Philadelphia Fed (regionaler Ableger der US-Notenbank Fed) auf Basis einer Umfrage unter professionellen Konjunkturauguren errechnete Wahrscheinlichkeit einer Rezession liegt auf dem höchsten Stand seit Beginn der Erhebung im Jahr 1968!

Die inverse Zinskurve – oft ein Vorbote eines Abschwungs – bestätigt diese Befürchtungen. Wir rechnen zwar mit einer weiteren Wachstumsverlangsamung, jedoch nicht mit einer Rezession. Dafür ist etwa der Arbeitsmarkt zu stark. Auch wenn die Arbeitslosigkeit auf rund 4,5 Prozent ansteigen wird, verharrt sie deutlich unter dem langjährigen Durchschnitt von über 6 Prozent. Das stützt den privaten Konsum, die mit über 75 Prozent klar grösste BIP-Komponente.

Nicht ganz so eindeutig sind die Aussichten für Europa. Aber auch hier scheinen sich die schlimmsten Befürchtungen einer tiefen Rezession nicht zu bewahrheiten. Das hat auch damit zu tun, dass wachstumshemmende Faktoren wie die Energieknappheit oder Lieferengpässe 2023 nachlassen.

Inflation: Über dem Berg

Die Inflation, das ganz grosse Thema in diesem Jahr, wird uns auch 2023 begleiten, aber – aus Sicht der Märkte – an Bedrohung verlieren. Die US-Teuerung hat sich bereits von ihren Höchstständen im vergangenen Sommer gelöst und wird sich weiter zurückbilden. Nicht auf das angestrebte Niveau von 2 Prozent, aber im Verlauf des Jahres dürfte sich der Preisauftrieb in den USA auf 3 bis 4 Prozent verlangsamen.

Europa hinkt der Entwicklung in den USA einige Monate hinterher, aber auch hierzulande wird der Teuerungsdruck nachlassen. Auslöser dafür sind die nachlassende Nachfragedynamik, sich abschwächende angebotsseitige Preistreiber sowie Basiseffekte.

Zinsen und Geldpolitik: Keine Zinssenkungen 2023

Das Unmögliche scheint möglich. Tritt unser oben skizziertes Wachstums- und Inflationsszenario ein, dann könnte der Fed tatsächlich ein sogenanntes Soft Landing gelingen, also die Eindämmung der Inflation, ohne dass durch die restriktivere Geldpolitik eine Rezession ausgelöst wird. Das wäre aussergewöhnlich.

In der ersten Jahreshälfte 2023 wird es noch zu letzten Leitzinserhöhungen kommen, danach ist Schluss. Das ist Marktkonsens. Was wir hingegen nicht glauben, ist, dass die Fed – wie derzeit vom Markt erwartet – die Zinsen in der zweiten Jahreshälfte bereits wieder senken wird.

Am langen Ende der Zinskurve dürfte es 2023 zu deutlich geringeren Bewegungen kommen als in diesem Jahr. Auch wenn kurzfristige Ausschläge natürlich nie auszuschliessen sind, rechnen wir nicht damit, dass die Höchststände vom Oktober substanziell und nachhaltig überschritten werden.

Aktien: Mau

Keine Rezession, Zwischenhalt in der Geldpolitik, Inflation und Kapitalmarktrenditen über dem Berg – das klingt zunächst positiv für die Aktienmärkte. Dieses Szenario stützt sie zwar, beflügelt sie aber kaum, denn wir rechnen mit einer weiteren Wachstumsverlangsamung sowie unverändert hohen Leit- und Kapitalmarktzinsen. Ausserdem sind die Bewertungen aufgrund der Korrektur in diesem Jahr zwar zurückgekommen, wirklich günstig sind Aktien jedoch nicht. Im Vergleich zu Obligationen sind sie sogar teuer.

Mit den höheren Zinsen ist den Aktien wieder eine echte Anlagekonkurrenz erwachsen. Zudem sind die eingepreisten Gewinnerwartungen immer noch sportlich. Mit grossen Sprüngen ist an den Aktienmärkten 2023 somit nicht zu rechnen. Es fehlt ein Auslöser für substanziell höhere Kurse. Auf das Annus horribilis folgt kein Annus mirabilis.

Thomas Heller ist CIO und Geschäftsleitungsmitglied von Belvédère Asset Management in Zürich