Was sind die wichtigsten aktuellen Herausforderungen im Procurement?
Grundsätzlich bewegen wir uns weiterhin in einem sehr herausfordernden Umfeld. Die Lieferengpässe haben zwar etwas nachgelassen, trotzdem bleibt die Steuerung von Risiken aufgrund der angespannten geopolitischen Lage ein zentrales Thema. Zusätzlich erfordern Nachhaltigkeit und Digitalisierung die Aufmerksamkeit der Einkäuferinnen und Einkäufer. Gerade beim Thema Nachhaltigkeit besteht zudem Unsicherheit: Was konkret sind die Anforderungen? Wie sehen die Implementierungsmöglichkeiten aus? Beide Themen bieten grosse Potenziale, binden aber auch Ressourcen in der Implementierung. Und Ressourcen sind in Zeiten des Fachkräftemangels auch im Procurement eine grosse Herausforderung.
Welche Covid-19-Lehren hat man implementiert, welche wieder vergessen?
Insgesamt ist dadurch das Thema Supply-Chain-Management auf die Agenda des Topmanagements gerückt. Das ist sicher ein wichtiger und guter Schritt. Jetzt muss es das Ziel sein, dass es da auch bleibt. Denn durch die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in Europa verschiebt sich der Fokus wieder von Resilienz in Richtung Kosten. Es wird zentral sein für Schweizer Unternehmen, das «neue Normal» zwischen Kosten und Resilienz zu finden. Zwischen den während Covid-19 diskutierten Massnahmen sehen wir grosse Unterschiede in der Anwendung. Der Aufbau von Sicherheitsbeständen war und ist das zentrale Mittel der Unternehmen. Gleichzeitig zeigt sich, dass Reshoring, also die Rückverlagerung von Produktion oder Lieferanten nach Europa, nicht im ursprünglich angedachten Umfang umsetzbar ist. Die Infrastruktur und die Lieferanten sind schlichtweg nicht mehr vorhanden, und der (Neu-)Aufbau ist kostspielig.
Seit Ende 2022 spricht man (noch) viel mehr über künstliche Intelligenz (KI) – wo sehen Sie hier die Potenziale?
Insgesamt bieten sich durch die künstliche Intelligenz vielfältige Chancen in der Beschaffung, beispielsweise bei Verhandlungen, Transparenz in der Lieferkette, Risikomanagement, Informationen zu Beschaffungsmärkten. Grundsätzlich adressiert die KI deutlich stärker die Aufgaben der strategischen Beschaffung als bisherige Automatisierungsbemühungen in den operativen Prozessen des Procurement. Am Ende geht es aber nicht nur darum, dem aktuellen Hype zu folgen, sondern konkrete Anwendungen im Procurement auszutesten und Erfahrungen zu sammeln. Denn nicht überall, wo aktuell KI oder Machine-Learning draufsteht, ist es auch enthalten.
Einige technologische Entwicklungen waren und sind vielversprechend, andere weniger. Wo zeichnen sich Durchbrüche ab, wo nicht?
Ich glaube, insgesamt sehen wir, dass sich die Umsetzung digitaler Technologien im Procurement deutlich schwerer gestaltet als ursprünglich gedacht. Beispielsweise liegen Schweizer Unternehmen bei der Automatisierung ihrer operativen Beschaffungsprozesse hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück. Gründe sind sicher die fehlende Daten- und Prozessqualität, begrenzte Personalressourcen sowie eine Vielzahl an Systemschnittstellen.
Wer sollte innerhalb eines Unternehmens die Weiterentwicklung der Einkaufsthemen vorantreiben?
Als ehemalige Einkäuferin bin ich bei diesem Thema sicher nicht zu 100 Prozent objektiv. Grundsätzlich erachte ich eine klare Zuordnung der Beschaffungsverantwortung zu einer Procurement-Abteilung mit den entsprechenden Kompetenzen als zentral. Insgesamt sollten die steigenden Anforderungen an die Lieferkette sich auch in der Bedeutung des Einkaufs spiegeln. Die konkrete Aufwertung hängt für mich aber ebenfalls von der Branche ab. Zur Orientierung können folgende Fragen herangezogen werden: Wie hoch ist der externe Wertschöpfungsanteil an meinem Produkt/Service? Wie kritisch für den Unternehmenserfolg sind externe Partner beziehungsweise Lieferanten? Wir sprechen beispielsweise im Maschinenbau schnell von einem externen Wertschöpfungsanteil von 50 bis 70 Prozent am Produkt. Entsprechend wichtig ist eine Aufwertung des Einkaufs, um das volle Potenzial ausschöpfen zu können.
«Nachhaltigkeitsziele in tägliche Entscheidungen integrieren.»
Ein wichtiges Thema ist die Nachhaltigkeit (ESG). Wo steht man hier?
Das Thema ist in der Breite angekommen. Wir merken aber auch, dass auf vielen Seiten Unsicherheit über die spezifische Umsetzung herrscht und Sorgen um die Auswirkungen auf die Kosten bestehen. Wir sehen verstärkte Bemühungen, den CO₂-Footprint der Lieferkette zu ermitteln und entsprechende Informationen von den Lieferanten zu erhalten.
Welche Lösungen zeichnen sich ab?
Ziel muss es sein, Nachhaltigkeitsziele in die täglichen Entscheidungen und Aufgaben zu integrieren. Ansonsten werden wir zwar Nachhaltigkeitsmassnahmen sehen. Die konkrete Wirkung zur Verbesserung der Nachhaltigkeit aber verpufft, weil bei den täglichen Entscheidungen andere Ziele stärker gewichtet werden.
Wie sieht der Einkauf nach 2030 aus?
Auch wenn wir heute noch vor Herausforderungen in der Umsetzung stehen, wird die Automatisierung operativer Beschaffungsprozesse an Bedeutung gewinnen. Die Rolle des operativen Einkäufers und der Einkäuferin wird sich zunehmend mit der Steuerung von Eskalationen und Ausnahmen beschäftigen.
Die Fragenstellerin
Name: Judith Paulus
Funktion: Dozentin, ZHAW School of Management and Law, Institute for Organizational Viability, Winterthur
Ausbildung: Dr. oec., HSG, Business Innovation; M. Sc. Wirtschaftsuni Wien, Supply Chain Management
Berufliche Stationen: 2013–2017 Project Manager, Supply Chain Finance-Lab, Schweizerische Post; 2017–2020 Head of Project Management Procurement, Thyssen Krupp Steering; 2020–2021 Head of Procurement Indirect & Excellence, Stadler Rheintal