Sie twittern regelmässig. Unterbeschäftigt?
Jim Hagemann Snabe: Absolut nicht (lacht). Ich will mich mit Social Media auseinandersetzen, weil sie wichtig sind. Und dann gehts darum, an meine 10 500 Follower eine Botschaft auszusenden.

Nämlich?
Wir müssen die Digitalisierung optimal nutzen, um so eine bessere Zukunft zu schaffen.

Das tönt pathetisch.
Und ist keine leere Phrase. Die Digitalisierung gibt uns die Chance, im grossen Stil Ressourcen zu sparen, Abfälle zu reduzieren, erneuerbare Energiequellen auszubauen. Nur schon aufgrund des Bevölkerungswachstums sind wir auf Produktivitätswachstum angewiesen. Die Digitalisierung ist ein Schlüssel dazu.

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Sie bezeichnen sich selber als «vorsichtigen Optimisten», auch in der Digitalisierung?
In Dänemark, wo ich wohne, hatten wir in den letzten zwei, drei Jahren eine breite Diskussion über die Digitalisierung, über den Verlust von Arbeitsplätzen, über Unsicherheit. Ich hab an einer Konferenz der Regierung für einen positiven und verantwortungsvollen Umgang plädiert. Doch dieser stellt sich nicht automatisch ein. Da ist viel Leadership gefragt, in der Politik, in der Wirtschaft.

Braucht es auch neue Regulierung?
Ja, davon bin ich überzeugt. Um beim Auto zu bleiben: Es gab Vorschriften wie Geschwindigkeitsbegrenzung, technische Anforderungen, Haftpflichtvorschriften. Wenn wir jetzt die rasante technische Entwicklung in der Digitalisierung anschauen: Viele Gesetze wurden eingeführt, als der Begriff Cloud bestenfalls im Wetterbericht vorkam. Es geht also darum, dass wir neue, vernünftige Regeln und Standards schaffen, auch für den Umgang mit Daten oder Sicherheit. Es geht aber auch darum, dass wir zentrale Fragen der Menschheit beantworten. Soll menschliche DNS modifiziert werden oder nicht? Wollen wir Roboter zur Betreuung von Betagten im Altersheim einsetzen? Diese Fragen müssen wir beantworten, bevor die Technik die Richtung vorgibt.

Sie sind Präsident von Møller-Mærsk, der weltgrössten Containerschiff-Reederei, Sie sind designierter Präsident von Siemens, dem grössten deutschen Konzern, und Sie sind Vizepräsident bei Allianz, einem der grössten Versicherer. Wie gut sind diese drei Kolosse digital unterwegs?
Gut, auch wenn sie es nicht an die grosse Glocke hängen. Bei MØller-Mærsk kommen über 90 Prozent der Kundenaufträge über eine digitale Plattform rein. Bei Siemens haben wir das Internet of Things über die Betriebsplattform Mindsphere stark vorangetrieben. Mittlerweile beschäftigt das Unternehmen über 20 000 Softwareingenieure, ist also eher eine Software- als eine Industriefirma.

Und Allianz?
Das ist heute ein Informationsunternehmen. Auch da haben wir riesige Technologiesprünge gemacht. Ein Beispiel: Allianz kann Autos in Italien in Echtzeit analysieren und den Kunden aufgrund der Daten aus dem Auto ein massgeschneidertes Pricing anbieten. Dank vorsichtigem Fahren und Datenanalyse kommen sie in Genuss von Rabatten. Mittlerweile sind über 400 000 Autos mit diesem Allianz-Angebot vertraut. Die Kunden sind begeistert.

Wie muss ein Konzern aufgestellt sein für diese Transformation? Dezentral?
Seit der Industrialisierung galt das Prinzip: Grösser ist besser. Weil wir davon ausgingen, dass Skalierbarkeit der entscheidende Vorteil ist. Die Digitalisierung fordert diese These heraus. Man muss nicht unbedingt gross sein, man muss vor allem schnell und innovativ sein.

Das heisst für einen Grosskonzern?
Dass er wegkommt von einer alles wissenden und bestimmenden Zentrale und dezentral agiert. Man setzt also eher auf schnelle Einheiten und gemeinsame Plattformen in einem Konzern.

Sie denken an Siemens, das unter Konzernchef Joe Kaeser dezentralisiert wird?
Absolut. Auch bei der Führung muss man umdenken. In der heutigen Zeit kann man die Zukunft viel weniger planen, weil sich Märkte und Technologien unheimlich schnell verändern. Statt eines detaillierten Planes, der Aufgaben klar definiert, braucht es Freiräume, damit die Leute kreativ und flexibel sein können.

Tönt nach kreativem Chaos.
Muss nicht sein. Die Führung muss klarmachen, was die Ziele sind, wohin die Reise geht. Aber der Weg dorthin soll nicht im Detail vorbestimmt sein. Das gibt die Möglichkeit, das Potenzial jedes Mitarbeitenden besser zu nutzen. Aber ich gebe zu: Diesen Wandel auszulösen, wenn es wirtschaftlich gut läuft, ist nicht einfach. Erfolgreiche Firmen haben einen inneren Widerstand gegen Veränderung. Dabei sage ich: Ein modernes Unternehmen muss sich ständig neu erfinden. Gerade heute. Das hat SAP vorbildlich gemacht. Die Firma hat sich seit 1992 viermal neu erfunden – stets aus einer Position der Stärke. 1992 wurde das Ressourcenplanungssystem R/3 mit Client-Server-Technologie erfunden, 2000 hat man das Internet integriert, 2010 wurde die Entwicklungsplattform HANA erfunden, eine In-Memory-Datenbank, und ab 2012 hat man mit der Cloud-Technologie Massstäbe gesetzt. Ich bin überzeugt: Die Zeit des blossen Optimierens ist vorbei. Man muss sich neu erfinden.

Sie haben früher nicht top-down geführt?
Doch. Seit Anfang der Industrialisierung hat man auf diese Art geführt. 2008 habe ich gemerkt, dass dieses tradierte Modell nicht mehr funktioniert. Man hat zwar die Kontrolle, doch der Erfolg beschränkt sich auf das, was man geplant hat. Dabei verpasst man ganz viele Möglichkeiten. Es geht also darum, die Kontrolle zu lockern, um höhere Ambitionen anzustreben. Das haben wir bei SAP, wo ich Co-CEO war, gemacht: Wir waren damals Weltmarktführer in der Cloud-Technologie, trotzdem haben wir den Wandel durchgesetzt. Am Schluss haben wir den Umsatz verdoppelt und die Leute waren hochmotiviert.

Und bei Møller-Mærsk?
Da haben wir zuerst mit Pilotprojekten experimentiert und schliesslich ein Geschäftsmodell mit breitem Portfolio von Experimenten und Projekten aufgebaut. Auch da war Dezentralisierung wichtig.

Als SAP-Chef haben Sie viele Firmen von innen gesehen. Haben uns die Amerikaner mit ihrer Innovationskraft abgehängt?
Sie sind uns in der digitalen Konsumwelt voraus, da dominieren Firmen wie Facebook, Amazon, Google. Bei der industriellen Nutzung der Digitalisierung spielen die Europäer vorne mit, etwa bei Internet of Things, bei Smart Grid, bei Renewables, beim Ressourcenmanagement. Da haben wir zum Teil sogar einen Vorsprung. Das gilt übrigens auch für kleine Länder wie die Schweiz oder Dänemark. Weil beide Länder einen hohen Ausbildungsgrad haben, sind sie prädestiniert für die Digitalisierung, denn es geht nicht mehr um Massenproduktion, wo grosse Länder einen Vorteil haben, sondern eben um Kreativität und Geschwindigkeit.

Møller-Mærsk und IBM haben eben eine Kooperation im Bereich Blockchain angekündigt. Worum geht es?
Wir bauen eine offene Plattform, auf der alle Akteure präsent sind. Es geht darum, den globalen Handel zu digitalisieren. Wenn man sich vorstellt, dass 80 Prozent der Produkte des täglichen Gebrauchs per Schiff transportiert werden, kann man sich den Effekt vorstellen.

Industrie verbrüdert sich mit IT?
Ein Unternehmen mit starker physischer Präsenz im Verbund mit einer Firma mit stark digitaler Ausrichtung – das halte ich für eine Winner-Kombination. Da kommt viel Dynamik rein: Møller-Mærsk bestreitet 20 Prozent des weltweiten Containerhandels und verbindet sich nun mit der digitalen Dimension. Da steckt riesiges Potenzial drin. Der Transport von Waren übers Meer ist noch sehr traditionell organisiert – Bürokratie ohne Ende. Da werden Unmengen von Papier herumgeschoben, vom Produzenten zur Logistik, zur Bank, zur Versicherung, zum Zoll, zum Abnehmer. Ein Zertifikat hier, ein Zollpapier dort – und ganz viele Stempel von Behörden. Das alles macht mindestens 20 Prozent der Kosten eines Gütertransports aus.

Und jetzt kommt das Digital ins Spiel?
Absolut. Mit dieser Blockchain-Plattform versuchen wir eine Lösung für die ganze Branche aufzubauen. Wir wollen die Dokumente digitalisieren und zentral speichern. Davon versprechen wir uns einen riesigen Effizienzsprung, für die Transportbranche, aber auch für die Kunden.

Das Risiko des Datendiebstahls oder der Manipulation sehen Sie auch?
Keine Frage, wenn so viele Daten in einer digitalen Struktur eingebaut werden, gibt es Risiken. Deswegen bauen wir auf Blockchain-Technologie, weil wir uns so mehr Sicherheit versprechen.

Was versprechen Sie sich von Artificial Intelligence (AI)?
Darin sehe ich einen der grössten Sprünge in der digitalen Welt. Zum ersten Mal haben wir eine Technologie, mit der wir nicht über ein Programm definieren, was der Computer machen soll, sondern er kann selbstständig lernen und beurteilen.

Welche Anwendung sehen Sie etwa in der Industrie?
Oh, da gibts ganz viele. AI hilft bei der Planung von Servicearbeiten, beim Optimieren von individuellen Therapien, bei der Steuerung der Energieversorgung.

Ihr Vater war Helikopterpilot, Sie selber wollten als Bub Jetpilot werden. Heute sind Sie einer der grossen Industriekapitäne der Welt. Zufrieden?
Ich lebte von zwei bis neun Jahre in Grönland, weil mein Vater dort arbeitete. Da habe ich zwei Dinge gelernt: Wir stehen in der Verantwortung, diese wundervolle Natur zu schützen. Zweitens war ich als Ausländer Gast im Land. Das hat mich gelehrt, offen und bescheiden zu sein. Und drittens ist es mein Ziel, einen Mehrwert zu bieten. Offenbar ist mir das in der Vergangenheit nicht schlecht geglückt.

Der Super-VR

Name: Jim Hagemann Snabe
Funktion: VR-Präsident Møeller-Mærsk, VR-Präsident Siemens, VR-Vizepräsident Allianz
Alter: 52
Wohnort: Kopenhagen
Ausbildung: Studium Betriebs- und Finanzwissenschaften an der Aarhus School of Business, Dänemark
Karriere: Hagemann Snabe arbeitete 25 Jahre bei SAP, zuletzt als Co-CEO und bis 2017 als Verwaltungsrat. Er ist Präsident bei Møller-Mærsk, neuer Präsident von Siemens und Vizepräsident bei der Allianz. Er sitzt im Board of Trustees des WEF.