Man könnte meinen, in der Schweiz müsste Digitalisierung so gut funktionieren wie sonst nirgendwo. Topuniversitäten, eine blühende Startup-Landschaft, Kapital, innovative Unternehmen – die Liste der Standortvorteile ist lang. Und doch stellen zahlreiche Verbände, Beratungshäuser und Hochschulen immer wieder fest, dass es noch viel Luft nach oben gibt.
Eine aktuelle Studie der IMD von diesem Jahr zeichnet ein eindeutiges Bild: Über 90 Prozent der befragten CEO geben an, dass die Digitalisierung einen signifikanten Einfluss auf ihre Branche und ihr Unternehmen hat und damit eine CXO-Level-Toppriorität darstellt. Aber 39 Prozent äusserten auch, dass ihre Organisation nicht adäquat darauf reagiert.
Der Fokus auf Schweizer Unternehmen zeige gemäss einer Untersuchung der HWZ Zürich aus dem Jahr 2018 bereits ähnliche Diskrepanzen: Nur 9 Prozent sind «digitale Master» – und sage und schreibe 85 Prozent gelten als «digitale Dinosaurier».
Auf der Suche nach den Ursachen für diese ernüchternden Zahlen zeigt eine Kombination aus langjähriger Projekterfahrung und der HWZ-Studie drei wesentliche Transformationshürden: Fehlendes Fachwissen bei den Mitarbeitenden, fehlende Veränderungskultur und fehlendes Verständnis oder Interesse beim Management. Oder anders gesagt: Wir haben immer noch einen Mangel an Bewusstsein für die Relevanz der digitalen Transformation sowie einen Mangel an effektiven Skills, wie mit ihr umzugehen. Und da wundert es nicht, wenn auch keiner mehr Lust auf die notwendigen Veränderungen hat.
Unternehmen reagieren
In der Praxis gibt es drei Strategien, in Anwendung derer sich Organisationen mit der digitalen Transformation auseinandersetzen können. Die erste ist die sogenannte «Vogelstrauss-Strategie»: Man steckt den sprichwörtlichen Kopf in den Sand und wartet ab. Oft sind Angst oder falscher Stolz in der Geschäftsleitung Auslöser dieses Verhaltens. Bei der Schnelligkeit der technologischen Veränderungen kein überraschendes Vorgehen. Aber eben nicht ratsam. Nummer zwei ist die ebenfalls beliebte Salamitaktik: Man nimmt sich der Digitalisierung scheibchen- oder eben projektweise an, ohne einen übergeordneten Plan. Dieses Vorgehen kann Sinn machen, wenn das eigene Geschäftsmodell nicht heute oder morgen disrumpiert werden kann. Doch leider wähnen sich viel zu viele Firmen in diesem Irrglauben.
Aber es gibt auch diejenigen, die mit holistischem Verständnis, klarem Ziel und agiler Roadmap unterwegs sind – auf dem Weg zum digitalen Master. Was diese Organisationen anders machen? Sie beantworten vier konkrete Fragen zum Thema digitale Transformation:
1. Worum geht es bei der Digitalisierung genau und was sind die zugrunde liegenden Treiber und Trends?
2. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf unsere Branche und unser Unternehmen?
3. Wie sieht unser Fahrplan für die digitale Transformation aus?
4. Wie setzen wir unseren Plan für die digitale Transformation um?
Die Antworten auf diese Fragen müssen in einem strukturierten Prozess erarbeitet werden, an dem alle wichtigen Interessengruppen des Unternehmens beteiligt sind. Wertvoll können auch Impulse von aussen sein – im Sinne einer Inspiration dazu, wie andere diese Fragestellungen bereits für sich gelöst haben.
Isabel Steinhoff, Managing Partner, Markus Gröninger, VR-Präsident, Parato, Zürich. www.parato.ch
1. Bilden Sie sich und Ihr Team weiter: Informieren Sie sich über die Digitalisierung, was es damit auf sich hat, welche Auswirkungen sie auf Ihre Branche hat, und lernen Sie von anderen.
2. Erstellen Sie Ihren Polarstern: In einer schnelllebigen Welt brauchen Sie Orientierung. Schauen Sie zwanzig Jahre in die Zukunft («zoom out») und nehmen Sie Ihren eigenen Polarstern als Grundlage und Leitfaden für alle Ihre Digitalisierungsaktivitäten (siehe auch «Handelszeitung» Nr. 35 vom 26. August 2020 und Nr. 38 vom 16. September 2021).
3. Konzentrieren Sie sich auf radikale Umsetzung: Das bedeutet schnelle und pragmatische Implementierung oder «zoom in». Planen und verfolgen Sie vierteljährlich experimentelle Schritte und Meilensteine und geben Sie autonomen Teams die Freiheit und Autorität, ihren Weg zu finden. Akzeptieren Sie als allgemeine Regel, dass man durch Handeln und nicht durch Denken lernt.
4. Verstehen Sie, was Sie tun: Tun Sie nie etwas, das Sie nicht vollständig verstehen, selbst wenn Experten und Expertinnen Ihnen sagen, dass Sie es tun sollen. Fragen Sie einfach fünfmal nach dem Warum, bis Sie es verstanden haben, und treffen Sie keine Entscheidung, bevor Sie wirklich verstanden haben, was Sie tun und welche Ergebnisse Sie erwarten.
5. Arbeiten Sie mit den richtigen Leuten zusammen: Nicht die Technologie ist der begrenzende Faktor für die Digitalisierung, sondern die Menschen sind es. In Wirklichkeit trifft Technologie 4.0 (exponentielle Entwicklung) auf Gehirn 1.0 (lineare Entwicklung). Um diese Herausforderung zu meistern, wird Change Management zum zentralen Erfolgsfaktor. Ganz nach dem Motto: Change people oder change people.
6. Vernetzen Sie sich in einer vernetzten Welt: Stellen Sie immer sicher, dass Sie mit einem erfahrenen Team zusammenarbeiten, das über ein tiefes und ganzheitliches Wissen im Bereich der Digitalisierung verfügt. Bleiben Sie im digitalen Ökosystem vernetzt: Stellen Sie sicher, dass Sie über ein breites Netzwerk von Partnern verfügen, das eine schnelle Einrichtung von virtuellen Teams und den Zugang zu digitalen Experten und Expertinnen in allen relevanten Bereichen der Digitalisierung ermöglicht. Leben Sie das Konzept der schlanken Organisation und integrieren Sie erstklassige Partner in Ihre Wertschöpfungskette. Stellen Sie sicher, dass die Interessen der Partner mit Ihren Geschäftszielen übereinstimmen. Wissen und Innovation sind nicht auf die Grenzen Ihres Unternehmens beschränkt.
7. Arbeiten Sie mit den Ihnen vertrauten Wegbegleitern und Wegbegleiterinnen zusammen, nicht mit Beratern oder Beraterinnen: Sie haben noch nie eine digitale Transformation durchgeführt – und es gibt Menschen, die das schon viele Male getan haben, jedes Mal in einem etwas anderen Kontext. Nutzen Sie diese Erfahrung, indem Sie mit Transformationsexperten zusammenarbeiten, die es in der Realität mit allen Herausforderungen als Unternehmer getan haben, nicht nur als Berater, die Papiere schreiben. Finden Sie Ihre vertrauten Partner und erweitern Sie Ihr Unternehmen um ein starkes Digitalisierungsnetzwerk.
Die Siebener-Probe lässt sich auch für das eigene Unternehmen machen.