Wie wird das Gesundheitssystem im Jahr 2040 aussehen?
Man weiss, dass in einem Jahr oder in drei Jahren wenig passiert, aber innerhalb von zehn Jahren sich alles verändert. Kurzfristig werden Innovationen überschätzt, langfristig unterschätzt – und beides gilt auch für das Gesundheitswesen.
Können Sie das an Beispielen zeigen?
Wenn wir auf die Länder schauen, die ein sehr fortschrittliches Gesundheitssystem haben wie beispielsweise Dänemark, Schweden, Estland oder Litauen, dann sind das oft Länder, die vieles neu aufbauen konnten. Hinzu kommt, dass man in diesen Ländern ein anderes, positiveres Bild von staatlichen Stellen hat – bei uns ist man da durchaus etwas skeptischer. Und wir haben den Föderalismus. Der hat viele gute Seiten, aber bei einigen Themen rund um die Digitalisierung ist das nicht förderlich. Nochmals zum Blick auf 2040: Wir werden dann in irgendeiner Form so etwas wie das elektronische Patientendossier haben, auch wenn man das dann etwas anders bezeichnen wird, weil der Begriff in der Gesellschaft inzwischen zu negativ konnotiert ist.
Wie soll dieses elektronische Patientendossier funktionieren?
Ab der Geburt wird man ein solches Dossier haben, in das alle wichtigen Vorgänge eingetragen und Daten abgelegt werden, und der einzelne Mensch bestimmt, wer die Daten nutzen kann und soll. Ergänzend werden die Medikamenten-Rezepte zu 100 Prozent digitalisiert sein. Generell wird vieles ganz anders sein in den nächsten zwanzig Jahren – ich bin auf die Entwicklungen sehr gespannt.
Wie werden sich die Kosten unseres Gesundheitssystems entwickeln?
Es gibt oft die Annahme, dass mit der Digitalisierung alles günstiger wird. Aber das ist nicht der Fall, die Kosten werden nicht einfach so verschwinden. Wir geben in der Schweiz jährlich rund 90 Milliarden Franken für die Gesundheitsversorgung aus, davon entfallen etwa 10 Prozent auf Medikamente. Doch wenn man digitalisiert, sinken die Krankenkassenkosten nicht automatisch. Denn die Menschen werden immer älter, die Gesellschaft wird auch durchschnittlich älter, wir können mit moderner Technologie und Prozessen lediglich dafür sorgen, dass die Kosten im vernünftigen Rahmen steigen.
War Corona eine verpasste Chance für grosse Veränderungen?
Es gab schon einige grosse Veränderungen. Teilweise sehen wir die Auswirkungen erst jetzt: Letzte Woche wurde beschlossen, dass die Apotheken zukünftig mehr medizinische Dienstleistungen erbringen dürfen. Corona hat gezeigt, was für eine wichtige Anlaufstelle Apotheken in Gesundheitsfragen sind. Das hat man zum Beispiel bei den Impfungen gesehen. Wenn man es schafft, mehr einfache Beschwerden Richtung Apotheke zu lenken, ist bereits vieles erreicht. Ein Notfall, der in einem Spital landet, kostet je nach Spital bis zu 1200 Franken, auch wenn es nur ein Insektenstich oder ein Sonnenbrand ist. Solche Fälle können sehr gut in der Apotheke behandelt werden – und in dieser Hinsicht hat Corona schon für einen gewissen Schub gesorgt.
In den Begriffen der Digitalisierung müsste man hier von einem anderen Ausgangspunkt der Customer Journey sprechen.
Customer Jouneys sind nur so gut, wie sie auch genutzt werden. Man muss gegen Gewohnheiten ankämpfen und mit Anreizsystemen arbeiten. Viele Menschen sind nicht motiviert, kostensparende Prozesse zu bevorzugen. Solche Journeys sind vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz so komfortabel. Man muss sie so ausgestalten, dass auch die Patientinnen und Patienten etwas davon haben.
Es gäbe aus der digitalisierten Wirtschaft einige Anknüpfungspunkte. Beispielsweise die Instant Economy – Menschen sind ungeduldig, sie möchten nicht eine Stunde im Wartezimmer einer Praxis warten.
Gut, wir dürfen hier nicht von Ihnen oder mir auf andere Menschen schliessen – schliesslich gibt es durchaus Leute, die ausreichend Zeit haben, auch für Wartezeiten in einer Praxis. Aber vielleicht müsste man darüber nachdenken, die bisher einheitlichen, für alle Menschen gleich aussehenden Customer Journeys zu variieren.
Wenn man sich andere Branchen anschaut, dann wurden Kooperationen zwischen Versicherungen und Leistungserbringern im weiteren Sinne aufgebaut, um das System insgesamt zu verbessern.
Auch in unserer Branche gibt es Beispiele, etwa in den USA. Kaiser Permanente ist ein Unternehmen im Gesundheitswesen. Das ist ein geschlossenes System, inklusive Krankenkasse mit kompletter integrierter Versorgung und auch einem Anreizsystem für alle beteiligten Akteure. Dieses fehlt bei uns in der Schweiz weitestgehend und es zeigt sich wohl, dass gutes Zureden allein nicht funktioniert.
Der Gesundheitsbereich wird oft von den Krankenkassen aus betrachtet – das wäre fast so, als ob man sich für ein Auto aufgrund der dahinterstehenden Autoversicherung entscheidet.
Im Grunde genommen betreiben wir auch kein Gesundheitswesen, sondern eher ein «Krankheitswesen». Um bei Ihrem Vergleich mit dem Auto zu bleiben: Mit der Grundversicherung erhalte ich ja schon so eine Art Vollkasko. Damit ist fast alles abgedeckt, und dafür bezahlen wir auch. Aber vielleicht würde manchen Menschen auch eine kostengünstigere Teilkasko genügen? Diese wird allerdings nirgends angeboten. Das würde auch die Aussage «Ich habe mein ganzes Leben nie eine Versicherung gebraucht, aber bezahlt» hinfällig machen. Denn es ist ja eigentlich grossartig, wenn jemand gesund bleibt.
Kommen wir auf die Customer Journey zurück. Die liesse sich auch von einer App aus steuern.
Voraussetzung hierfür ist eine Art digitale ID, damit alles über eine solche eindeutige Identifikation gemacht werden kann. Um allfälligen Befürchtungen entgegenzutreten, könnte man diese ID zum Beispiel durch eine staatliche Firma verwalten lassen. Ein elektronisches Patientendossier kann so eine Rolle übernehmen, aber dafür müssten auch die Gesetze angepasst werden. Diese Gesetze müssten so klar formuliert werden, dass man aus ihnen ableiten kann, was sie mit sich bringen. Sie müssten aber auch so formuliert sein, dass sie die zukünftige Entwicklung nicht behindern. Sonst hinkt der gesetzgebende Prozess der technologischen Entwicklung immer hinterher.
Und jetzt zu Galenica – wie wird Ihr Unternehmen im Jahr 2040 aussehen?
Wir werden bestimmt eine integrierte Customer Journey haben, ein eigenes Netzwerk, verbunden mit Partnerunternehmen, Joint Ventures und weiteren Formen der Zusammenarbeit. Wir planen aber nicht, eine Ärztefirma zu sein, und auch nicht, Spitäler zu besitzen. Die Komplexität des Gesundheitssystems werden wir nicht wegbringen, aber man kann sie mit digitalen Mitteln handhabbar machen. Wir haben mit dem Aufbau eines digitalen Gesundheitsmarktes bereits die ersten Schritte unternommen, wir müssen das aber noch einfacher machen.
Welche Elemente hat man bereits?
Wenn wir den B2B-Bereich ausklammern, dann haben wir bereits die Apotheken als niederschwellige erste Anlaufstellen. Beim Aufbau eines modernen Netzwerkes – ich möchte das nicht als Ökosystem bezeichnen – darf man nicht nur auf den Gewinn schauen. Apotheken sind aus unserer Sicht ideal für eine erste Triage, auch und gerade bei weniger schweren Erkrankungen. Wenn das Problem vor Ort gelöst werden kann, dann wird es gelöst. Wenn nicht, werden die Patientinnen und Patienten zu einem Arzt weitergeschickt, das kann und soll auch ausserhalb unseres Netzwerkes sein.
Spätestens an dieser Stelle müssten entsprechende Marketing- und Kommunikationsmassnahmen eingeleitet werden, um die Möglichkeiten bekannt zu machen und Alternativen zu bisherigem Verhalten aufzuzeigen.
Wir haben ein «Medi-Corner»-Projekt, das in diese Richtung geht. Das ist ein etwas getrennter Bereich in einer Apotheke, in dem einfache medizinische Dienstleistungen vorgenommen werden können. Es sind keine Hinterzimmer, sondern eigens eingerichtete Behandlungsräume. Aber die Komplexität ist hoch – wenn man ein solches Projekt schweizweit lanciert, muss man mit 26 Kantonsapothekern sprechen.
Der Apotheker
Name: Marc Werner
Funktion: CEO Galenica Gruppe
Karriere: Bluewin (2000 bis 2004): Leiter Marketing und Verkauf; Swisscom (2005 bis 2019): zuletzt Leiter Sales und Services sowie Mitglied der Konzernleitung; seit 2020 bei Galenica
Ausbildung: Eidg. diplomierter Marketingleiter; Executive Education Programme: IMD Lausanne, Universität St. Gallen, London Business School, Harvard Business School.
Das Unternehmen Die Galenica Gruppe betreibt mit über 500 eigenen, Joint-Venture- sowie unabhängigen Partnerapotheken das schweizweit grösste Apothekennetz und bietet diverse Gesundheitsdienstleistungen und -checks.