Längst ist klar, dass die Digitalisierung unser aller Leben bis weit hinein in die Berufs- und Arbeitswelt umgestaltet. Nur ist, was in den Unternehmen auf operativer Ebene läuft, in den obersten Führungsgremien noch keineswegs Alltag. Jedenfalls ergab eine kurz vor der Corona-Krise von BDO Schweiz durchgeführte Befragung von rund 670 KMU, dass im Verwaltungsrat Kompetenzen in Bezug auf Digitalisierung nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Die meisten Befragten stuften digitales Know-how als gar nicht oder kaum wichtig ein – angesichts der Bedeutung des Themas ein erstaunliches Resultat. Verwunderlich auch, weil eine deutliche Mehrheit angab, im Verwaltungsrat existiere keine Person, die speziell für den Bereich Digitalisierung verantwortlich sei.

Dass sich diese Situation in den letzten zwei Jahren kaum verändert hat, unterstreicht im Gespräch Marco Petoia. Er begleitet als externer Sparringpartner mit seiner 2010 gegründeten Firma Lumturo Unternehmen bei digitalen Change-Prozessen und amtet als Verwaltungsratspräsident unter anderem beim Regionalen Informatikzentrum RIZ in Wetzikon. Petoia spricht von erheblichem digitalem Nachholpotenzial in den meisten Steuerungsgremien im KMU-Land Schweiz.

Bemerkenswert sei das insbesondere deshalb, weil die technische Entwicklung so rasant abläuft und immer mehr Unternehmensbereiche durch die Digitalisierung und Transformation beeinflusst werden. So haben mit der digitalen Transformation neue Formen der Zusammenarbeit im Geschäftsbetrieb genauso Einzug gehalten wie Herausforderungen aufgrund disruptiver Märkte und Entwicklungen aufgrund der Plattformökonomie. Die klassischen Grenzen zwischen Verwaltungsrat und operativem Management müssen durchlässiger werden.

«Klassisches Rollenverständnis hat ausgedient»

Strategische Bedeutung haben inzwischen neben M&A genauso Innovationen, Transformationsvorhaben. Agilität und sogar die Talentsuche, erklärt Petoia. Selbst etablierte Unternehmen müssten ihre Geschäftsmodelle und -prozesse an die gewandelte digitale Wirklichkeit anpassen. Vieles sei zwar schon in der Umsetzung, gleichwohl fehle es in dem Aufsichtsgremium vielfach noch am Bewusstsein, was umfassende Transformationen benötigen. «Das klassische Rollenverständnis einer Verwaltungsrätin oder eines Verwaltungsrats hat ausgedient.» Gefragt seien strategische Impulsgeberinnen und -geber mit technologischem Verständnis, Menschen, die Innovationen anstossen können, und Gestalterinnen und Gestalter, die bereit sind, Organisationsgrenzen zu überwinden. Transformationskompetenz und Technologieverständnis rücken in den Fokus, und auch erfahrene Branchenkennerinnen und -kenner müssen sich heute darum bemühen, so Petoia weiter.

Er ergänzt dazu: Wer mit Investitionsentscheide Innovationen anstösst, muss wissen, wohin die Reise geht und das technologische sowie ökonomische Potential abschätzen können. Dazu müsse man im Verwaltungsrat die Auswirkungen des digitalen Wandels verstehen wollen und sich der stetig wachsenden Komplexität für Mensch und Technik stellen. Es brauche Neugier, um sehen zu wollen, welche neuen Technologien überhaupt existieren und welche wirtschaftlichen Konsequenzen mit dem Wandel zur Plattformökonomie einhergehen. Dazu reichen traditionelle Eigenschaften eines Verwaltungsrats nicht mehr aus», ist Petoia sich sicher.

«Wer Innovation, die inzwischen ohnehin fast immer eine digitale Basis haben, vom Management einfordert, darf selbst nicht analog unterwegs sein und sich vom Sekretär die Unterschriftenmappe vorlegen lassen», unterstreicht Petoia den Umbruch. Nicht verwalten, sondern gestalten sei nötig, neben Branchenkenntnis wird Beurteilungskompetenz wichtiger, resümiert der Lumturo-CEO seine Rolle als Verwaltungsrat. Zumindest sollte in jedem VR mindestens eine Person über die geforderten Kompetenzen verfügen, die etablierten Kompetenzen blieben weiterhin gefragt. Es sei nicht eine Frage von mehr oder weniger, sondern von sowohl als auch. Dazu könnten externe «Trusted Advisors» als Unterstützung und kritische Aussenbetrachter hinzugezogen werden.

Digitalisierung ist mehr als Technologie

Petoia warnt allerdings davor, die nötigen in- und externen digitalen Impulsgeber nur auf die Technologie zu reduzieren. Die stünde zwar ganz oben auf der Agenda, doch gehe die digitale Transformation viel weiter. Sie erlaube unter anderem neue Formen der Zusammenarbeit und der Transparenz im täglichen Geschäftsbetrieb zu etablieren, nicht zuletzt weil die interdisziplinäre Kollaboration immer wichtiger werde. So verwischen auch Grenzen zwischen dem Verwaltungsrat und der operativen Führung. Dafür müssten neue Formen des Umgangs mit dem Management eingeübt werden, weil die strategische Bedeutung mehr und mehr Bereiche umfasst.

«Selbst etablierte Unternehmen müssen ihre Geschäftsmodelle und -prozesse an die gewandelte digitale Wirklichkeit anpassen. Vieles ist hier zwar schon in der Umsetzung, doch fehlt es vielfach noch am Bewusstsein für die Anforderungen einer solchen Transformation.» Petoia spricht von einer breiten Palette an Herausforderungen, denen sich Verwaltungsräte zu stellen haben. Deutlich werde das dann, erklärt Petoia weiter, wenn ein Unternehmen beispielsweise ein innovatives und agiles Arbeitsumfeld aufbauen wolle, und dabei Kultur- und Führungsaspekte nicht berücksichtige. Klar soll das den Produkten und letztlich der Kundschaft zugutekommen, doch nötig sei dies auch, weil es immer schwieriger werde, Spezialistinnen und Spezialisten zu finden.

Digitalisierung sei also auch eine kulturelle Herausforderung. Die Firmenidentität weiterzuentwickeln  – aber eben nicht neu erschaffen – brauche Zeit und Geduld auch im Verwaltungsrat, so der Lumturo-Chef: «Wer auf digitale Maturität setzt, muss Offenheit mitbringen, Mut zum Fehlentscheid, muss die Diskussion mit allen Verantwortlichen schätzen und insbesondere auch die eigene Lernbereitschaft mitbringen.»

INTERVIEW

«Der richtige Mix im Verwaltungsrat machts»

Marco Petoia fokussiert mit seiner 2010 gegründeten Firma Lumturo auf die Begleitung von Transformationen bei KMU und ist selbst Verwaltungsratspräsident bei der IT & Cloud-Service Anbieterin RIZ AG in Wetzikon.

Warum braucht der Verwaltungsrat digitales Know-how?

Zunächst gilt es zu verstehen, dass ein Verwaltungsrat heute Grundkompetenzen in Sachen Digitalisierung und Transformation einfach mitbringen muss. Und, das ist wichtig, es handelt sich nicht um Kompetenzen, die spezifisches Branchenwissen voraussetzen. Vielmehr geht es darum, Technologien einschätzen und Veränderungsprozesse begleiten zu können. Zudem sollte dem, der als Impulsgeber für Innovationen amtet, klar sein, dass die digitale Transformation neben den technologisch-fachlichen Aspekten auch den psychologisch-kulturellen Bereich in einem Unternehmen umfasst.

Was heisst das konkret?

Wesentlich sind hier vier einander bedingende Aspekte. Der digitale Wandel vollzieht sich in rasantem Tempo, ständig entstehen neue Technologien, wodurch die Komplexität wächst und neuartige Wirtschaftsformen wie die Plattformökonomie entstehen. Als Verwaltungsrat muss man in all dem als Sparringpartner fürs Management agieren können und möglichst auch digitale Entwicklungen vorausdenken oder abschätzen können.

Muss also eine neue VR-Genration her?

Nein, sicher nicht. Auch weiterhin bedarf es unabhängig vom Alter des traditionellen Verwaltungsratscharakters mit seinen Erfahrungen, seinem Netzwerk und Branchen- sowie Marktkenntnissen. Das ändert aber nichts daran, dass man digitale Change-Prozesse auf allen Ebenen eines Unternehmens verstehen können muss. Gefragt sind Neugier, Mut zur Lücke, Geduld, um Ideen reifen zu lassen, und selbstverständlich darf man auch die Mühe nicht scheuen, sich Neues anzueignen.

Warum betonen Sie immer wieder Innovationen?

Weil Innovationen schlicht für jedes Unternehmen ein Muss für die Zukunftssicherung sind. Sie tragen von der Produkt- bis zur Marktentwicklung massgeblich dazu bei, relevant für die Kundschaft zu bleiben. Strategisch ist es hierbei für jede Verwaltungsrätin und jeden Verwaltungsrat eine essenzielle Aufgabe, als Impulsgeber, Beobachter, Sparringspartner, kritische Begleiter und Entscheidungsinstanz zu wirken. Wenn es dann noch gelingt, die Geschäftsleitung beim Innovationsmanagement zu unterstützen, hat das Gremium sein Unternehmen einen grossen Schritt in Richtung digitale Maturität vorangebracht.